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Warten
und weiterlesen
QU: TAZ, 14. März 2001
Ein Dutzend Anthroposophen haben sich in Hamburg getroffen, um
die Debatte über Rudolf Steiners Werk auch einmal intern
zu führen. Auf der Suche nach rassistischen Stellen kommen
sie zu dem Schluss: Man darf den Meister nicht so genau nehmen
aus Hamburg CHRISTIAN FÜLLER
Am
Nachmittag schon finden nur wenige Sonnenstrahlen in den Saal.
Der Seminarraum des Hamburger Rudolf-Steiner-Hauses ist im Souterrain.
Doch die schummerige Atmosphäre am Hamburger Mittelweg liegt
heute nicht nur an den Lichtverhältnissen. Die anthroposophisch
inspirierten Teilnehmer des Seminars "Die Überwindung
des Rassismus durch die Anthroposophie" sind an einer heiklen
Stelle im Werk ihres Meisters angelangt. 1910 sagte Rudolf Steiner:
"Nicht etwa deshalb, weil es den Europäern gefallen
hat, ist die indianische Bevölkerung ausgestorben, sondern
weil die indianische Bevölkerung die Kräfte erwerben
musste, die sie zum Aussterben führten."
Die
Seminaristen schlucken. Aber so steht es da: "die Kräfte,
die zum Aussterben führten". Der Satz stammt aus Steiners
"Mission einzelner Volksseelen". Die bemühte Fröhlichkeit,
die Steinerianer so oft auszeichnet, ist jetzt vergangen. Und
das bei einem Seminar, das doch zeigen sollte, dass Rassismus
allein durch die Anthroposophie zu überwinden sei. Stattdessen
Betroffenheit. Eine Handvoll Kindergärtnerinnen, diverse
Mitarbeiter des Steiner-Hauses, die Wissenschaftlerin, der Lehrer
aus Köln, der Versicherungsangestellte, die Hausfrau, der
Klavierstimmer und Ökobauer - kaum einer spricht, und wenn
doch, dann fangen sie so an: "Ich bin betroffen."
***
Ich
hörte, wie der Häuptling den Leuten zurief, sie sollten
keine Angst haben, die Soldaten würden ihnen nichts tun;
dann eröffneten die Soldaten von zwei Seiten des Lagers das
Feuer. (...) Viele, die ihre Frauen und Kinder oder Freunde verloren
hatten, gingen den Bach hinunter und krochen zwischen den nackten
und verstümmelten Körpern der Toten über das Schlachtfeld.
Wenige fanden wir noch lebend. (Bericht über ein Massaker
an Indianern, bei dem Weiße 1864 ein friedliches Dorf am
Sand Creek, Colorado, auslöschten.)
***
Der
Referent Lorenzo Ravagli hat Steiners launige Bemerkung über
die Kräfte, die bei den Indianern zum Aussterben führten,
nicht zufällig ausgewählt. Sie gehört ins Zentrum
seines Denkens. Steiner versuchte zu erläutern, warum sich
die Menschheit zu einer bestimmten Zeit in Rassen teilt, in höhere
und niedere. Und dass diese Phase erst überwunden werden
müsse, um in eine rein geistige Phase der Menschheitsgeschichte
eintreten zu können. "Man kann diese Stelle sicherlich
nicht so interpretieren", erläutert der Mittvierziger
Ravagli, "dass Steiner hier den Völkermord an den Indianern
rechfertigen wollte."
Die
Seminaristen stutzen. So einfach kann selbst ein Lorenzo Ravagli,
der im steinerschen Denken gewiss den Rang eines "Erleuchteten"
einnimmt, nicht Licht in die Sache bringen. "Ich ringe darum,
ich möchte das formulieren können", versucht eine
Frau das eisige Schweigen der Runde zu brechen. "Vielleicht",
sagt sie, und man glaubt zu spüren, wie sie innerlich mit
Steiners Erklärung für den Untergang der Indianer kämpft,
"vielleicht war es ein Opfer für die nächste Entwicklungsstufe
- wie ein Wachstumsvorgang."
Das
Schweigen hält an. "Da stellt sich die Frage der persönlichen
Verantwortung für die Massaker", insistiert plötzlich
eine Frau mit hochrotem Kopf. "Hat Steiner diese Frage gestellt?",
richtet sie das Wort an Ravagli und die Nebensitzenden.
Bislang
hatte an diesem wunderschönen Winternachmittag niemand solche
Fragen gestellt, niemand auch nur widersprochen. Ravagli, der
Philosoph aus München, der den mächtigen Bund der Waldorfschulen
berät, hatte beinahe ununterbrochen das Wort. Möglicherweise,
so versucht er nun die Spannung zu lösen, sei die Stelle
einfach schlecht mitgeschrieben; handele es sich bei den "Volksseelen"
doch um einen der unzähligen Vorträge Steiners. Aber,
so ergänzt er grundsätzlich, "wenn man weiß,
welch hohe moralische Ansprüche Steiner angelegt hat, dann
hat er die Frage nach der persönlichen Verantwortung gestellt.
Das muss man sich mitdenken."
***
Die
UN-Konvention über Genozide (1994) weist Schuld nicht allein
für Völkermord zu, sondern auch für die bewusste
Verschlechterung der Lebensbedingungen der angegriffenen Ethnie.
Dazu zählt die historische Forschung im Falle der Indianer
Nordamerikas u. a. das Abschlachten der Bisonherden durch die
Siedler, die heimliche Sterilisierung indianischer Frauen, die
absichtliche Ansteckung von Indianern mit den für sie tödlichen
Pocken und die Vertreibung aus ihren Stammlanden.
***
Ein
weiterer Teilnehmer gesteht nun, "mit dem Thema auch meine
Probleme zu haben". Aber er, der eine Art Hausmeister des
Hamburger Steiner-Hauses ist, gibt zugleich den Hinweis, wie mit
Widersprüchen im Werk des großen Anthroposophen zu
verfahren sei: warten und weiterlesen. "Bei Steiner ging
mir das oft so", sagt er. "Man muss das stehen lassen.
Denn immerhin gehen wir hier mit Wissen um, das vor 100 Jahren
noch Eingeweihtenwissen war."
Ravagli
aber will das Seminar weiter in die Tiefen des steinerschen Ouvres
hineinführen. Er hat die Stelle mit den aussterbenden Kräften
auch daher ausgewählt, weil er meint, von dort erschließe
sich die wahre Bewunderung Steiners für die Indianer. Tatsächlich
schwärmte Steiner davon, dass es "etwas Imponierendes
hat, wie in der indianischen Bevölkerung eine Anschauung
von den geistigen Dingen lebte". Genauso beeindruckt seien
viele Europäer gewesen, als sie "ein hohes spirituelles
Leben" bei den amerikanischen Ureinwohnern vorfanden. Wie
bei Rudolf Steiner und Lorenzo Ravagli wechselt nun auch die Laune
der Zuhörer ins Andächtige. Man ist durchdrungen gleichzeitig
von der Größe der Indianer - und ihrem Schicksal. "Wir
kommen", wie eine Teilnehmerin es ausdrückt, "langsam
in die Stimmung, um das zu verstehen."
Aber
Steiners schwelgerisches Pathos über die Indianer und ihre
okkulten Fähigkeiten hat eine Kehrseite. Die Indianer konnten
nämlich nur zu "dem großen Geiste aufschauen,
der die Welt durchwellt und durchwebt", weil sie "gerade
äußerlich-physisch in einer gewissen Weise herabgekommen
waren". Sie waren "verknöchert", schreibt
Steiner, und jeder, der den Meister mal gelesen hat, weiß,
was er damit meint: Sorry, aussterben! Oder, in Steiners Worten:
Die Sache war bei der Eroberung schon in der Dekadenz. Die Indianer,
die man ausgerottet hat bei der Eroberung von Amerika, lebten
gewissermaßen ganz aufgehend im Geiste. Die Europäer
hatten eine heillose Furcht ...
Im
Fünfeckraum ist indes alle Furcht gewichen. Es geht jetzt
nicht mehr um Verstehen, sondern um Fühlen. Ravagli sagt,
"es kann auch sein, dass man diese Stelle nicht versteht.
Dann versteht man sie halt nicht!" Dann schweigt er. Der
Waldorflehrer versucht "seine Gedanken zu bündeln".
Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Indianer nicht mehr genug
Kraft hatten, um sich zu wehren. Ein anderer nimmt Anlauf, den
Tod der Indianer vermittels der kosmologischen Badewanne zu erläutern.
Die Seminarleiterin wehrt letzte aufflammende Einwände ab:
"Wir müssen hier ja kultiviert zu Ende kommen."
Das
Seminar ist zu Ende. Vor dem Steiner-Haus kein erleuchtetes Ich,
das große Ziel der Anthroposophen, kein die Leiblichkeit
und den Rassismus transzendierender Geist. Nur Finsternis, stockfinstere
Nacht.
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