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WALDORFSCHULEN / Rudolf Steiners Reformpädagogik fordert massive Kritik heraus

Verirrt im Übersinn

Genaues Hinsehen zeigt: In Waldorfschulen wird etliches gelehrt, das jugendgefährdend sein kann. Die Bundesprüfstelle muss reagieren.

Autor: JOSEF KRAUS
QU: Rheinischer Merkur, 4. August 2000

Zusehends wächst die öffentliche Kritik an den Waldorfschulen und an der hinter ihnen stehenden Anthroposophie. Das ist gut so. Denn keine pädagogische Bewegung der letzten fünfzig Jahre wurde in ihrer Bedeutung so überschätzt und in ihrer Zweifelhaftigkeit so unterschätzt wie die Waldorfpädagogik. Gemeinhin galt das Credo: Waldorfschulen sind gute Schulen, denn sie sind Schulen ohne Noten, ohne Ziffernzeugnisse, ohne Sitzenbleiben, ohne Stundentakt; Schulen der Integration, der Ganzheitlichkeit, der Projekte, der Kindgemäßheit, der Kreativität.
Das war schon immer ein bisschen viel auf einmal, und so prägte sich die polemische Etikettierung manch anthroposophisch orientierter Eltern und Waldorflehrer als einer alternativ angehauchten Anthropo-Soft-Schickeria. Vorbild ist und bleibt die Ur-Waldorfschule, die 1919 von dem Waldorf-Astoria-Zigaretten-Industriellen Emil Molt in Stuttgart gegründet und von Rudolf Steiner (1861-1925) bis zu seinem Tod geleitet wurde.


Von Karma bis Kosmetik

Bei so viel Geschichte und "Pädagogik" muss man sich eigentlich wundern, warum diese Schulen nicht erheblich mehr Zulauf bekamen. Immerhin gibt es in Deutschland rund 40000 allgemeinbildende Schulen, an denen zehn Millionen Schüler unterrichtet werden. Da machen die 168 Waldorfschulen mit ihren 69000 Schülern (Stand: 1999) und die rund 20000 bekennenden Anthroposophen nur Promilleanteile aus.
Dass der Blick hinter die Fassaden der Waldorfschulen bislang nicht gelang oder nicht angestrengt wurde, hat vielerlei Gründe. Wer wagt es schon, Fragen zu stellen, wenn alles so schön pädagogisch klingt! Ein wichtigerer Grund ist, dass sich alles, was mit Waldorf oder mit Anthroposophie zu tun hat, hermetisch gibt und dass Anthroposophie zum Markenzeichen eines kaum durchschaubaren Konzerns geworden ist, der von der privaten Hochschule und dem Demeter-Bund über anthroposophische Berufsverbände und Landbauschulen bis hin zu Treuhandstellen, Banken, Verlagen und Kosmetikfirmen reicht.
Die bislang weitgehend ausgebliebene öffentliche Auseinandersetzung mit Waldorfpädagogik sowie mit Rudolf Steiner und dessen Anthroposophie dürfte ansonsten sehr praktische Gründe haben. Auch der engagierteste Wissenschaftler und Publizist hat irgendwann keine Lust mehr, sich durch ein Steiner-Schrifttum durchzubeißen, das im Katalog 204 Seiten ausmacht und mehr als 350, offenbar in permanenter Produktionsmanie entstandene Original-Steiner-Bände mit 4500 zunächst mitstenografierten Vorträgen enthält. Und keinem ist zu verdenken, wenn er die Nase voll hat von der allgegenwärtigen Heiligsprechung Steiners, vor allem aber - nur einige Titel und Kapitel - von: Reinkarnation und Karma, Gnosis und Kosmogonie, Seelenmetamorphose und Astralleib, okkulten Wahrheiten und spiritueller Ökonomie, ätherischer Welt und Akasha.
Zu sehr verquast ist Steiners Amalgamierung aus indischem Einschlag, deutschem Idealismus, Pantheismus, Kosmologie und Esoterik, als dass man sie einer Analyse unterziehen möchte. Zu kurios ist vieles in der praktischen schulischen Umsetzung, als dass man es ernst nehmen möchte: etwa dass Waldorfkinder nicht Fußball spielen dürfen, weil "das Fußballspielen ... die Beine geistig nicht frei (macht)" (Anthroposophische Zeitschrift "Info 3"); dass die Kinder in manchen Schulen je nach "Temperament", also ob sie cholerisch, phlegmatisch, sanguinisch oder melancholisch sind, zusammengesetzt werden; dass der Lehrer im Fachunterricht hauptsächlich den Kindern in die Hefte diktiert; dass die Kinder ein und denselben Klassenlehrer acht Jahre lang haben, weil die Anthroposophie die menschliche Entwicklung in siebenjährige Zyklen einteilt.
Mitte der neunziger Jahre wurde erstmals vernehmbar am Steiner-Denkmal gekratzt. Buchautor Carsten Holm warf Steiner Rassismus vor: Die Anthroposophen "ignorieren den haarsträubenden Unsinn, den der Meister über ,den Neger' faselte, der schwarz sei, weil er alles Licht aus dem Weltenraum aufsauge, der ,dieses Kochen in seinem Organismus' und daher ein ,starkes Triebleben' habe, aber gleichwohl ,ein furchtbar schlaues und aufmerksames Auge'" (Quelle: "Spiegel special" 11/96). Am 23. Februar 1997 fand die "Welt am Sonntag" mit dem Beitrag "Ein Rassist und Okkultist - Die verschwiegene Seite des Rudolf Steiner" großes Echo. Die "taz" titelte am 28. September 1996: "Schluß mit Steiners Rassenlehre".
Die Vorwürfe sind nicht unberechtigt. Steiner katalogisiert die Rassen in Schwarze mit "Hinterhirn" und "Triebleben", in Gelbe mit "Mittelhirn" und "Gefühlsleben" und in Weiße mit "Vorderhirn" und "Denkleben". Wörtlich: "Diese Schwarzen in Afrika haben die Eigentümlichkeit, daß sie alles Licht und alle Wärme vom Weltenraum aufsaugen... Dadurch, daß er das tut, wirken über den ganzen Menschen hin die Kräfte des Weltenalls... Der Neger hat also ein starkes Triebleben."
Nach Rudolf Steiner ist die Rassengliederung kosmologisch begründet und von den Mysterienführern der Atlantis ins Werk gesetzt. Ein Ernst Uehli rekapituliert diese "Theorie" in seinem Buch "Atlantis", das 1936 erstmals und 1980 in dritter Auflage erschien und noch im Dezember 1998 in den von der Pädagogischen Forschungsstelle der Waldorfschulen herausgegebenen "Literaturangaben für die Arbeit des Klassenlehrers an einer Freien Waldorfschule" zum Geschichtsunterricht der 5. Klasse empfohlen wird.


Atlantische Wiege

In diesem Uehli-Werk finden sich Rasse-Beschreibungen wie folgende: Die Saturn-Rasse sind die Indianer. Bei dieser "roten Rasse" sei die Pigmentierung der Haut das physiologische Merkmal der "Diskrepanz von zu starkem, nach außen drängendem Ich-Gefühl und unterliegendem Organismus". Und an anderer Stelle: "Der heutige aussterbende Indianer ist in seiner äußeren Erscheinung verknöchert, im Denken greisenhaft." Die Merkur-Rasse ist die "schwarze Rasse", deren "zu schwaches Ich-Gefühl bewirkte, daß sie der Sonnenwirkung zu stark ausgesetzt war und sich daher zu viel kohlenartige Bestandteile unter der Haut ablagerten". Weiter: "Der heutige Neger ist kindlich, ist ein nachahmendes Wesen geblieben." Ähnlich verquer fällt die Beschreibung der Mars-Rasse (zum Beispiel Hunnen und Mongolen) und der Venus-Rasse (Malaien) aus. Demgegenüber tritt der Arier hervor: "Der Keim zum Genie ist der arischen Rasse bereits in ihre atlantische Wiege gelegt worden" (Uehli, Seite 126).
Diese Literaturempfehlung samt Zitaten ist Anfang Juli durch die ARD-Sendung "Report", an der der Verfasser als Interviewpartner beteiligt war, öffentlich geworden. Die Reaktion des Bundes der Freien Waldorfschulen, des Dachverbandes aller Waldorfschulen, war bezeichnend und verharmlosend zugleich: Die öffentliche Kritik sei überzogen, Uehlis Buch sei eine problematische, vereinfachte Darstellung aus dem Werk Steiners. Es werde deshalb von der Bücherliste gestrichen.
Also wieder Friede, Freude und ansonsten nur eine öffentliche Kampagne? So einfach ist es doch wohl nicht! Zur kritischen Selbstreflexion reicht es in deutscher Anthroposophie offenbar nicht. Man bedauert allenfalls das, was gerade öffentlich angeprangert wurde. Die holländischen Steiner-Anhänger haben sich immerhin zu der Feststellung entschlossen, dass 62 Textstellen aus dem 89000 Seiten starken Werk Steiners nicht unkommentiert weitergegeben werden dürften.
Mittlerweile hat sich die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften der Sache angenommen. Sie überprüft im Auftrag des Bundesjugendministeriums, ob das Uehli-Buch den Tatbestand der "sozialethischen Desorientierung" Jugendlicher erfüllt und auf den Jugend-Index gehört. Egal wie dieses Prüfverfahren ausgeht: Es muss dies ein Anstoß sein zur überfälligen kritischen Auseinandersetzung mit dem Menschenbild Steiners und mit der Pädagogik der Waldorfschulen. Mit der Absetzung des Uehli-Buches ist es nicht getan. Hätte irgendein Lehrerausbilder im öffentlichen Schulbereich auch nur eine der zitierten Aussagen getätigt oder entsprechende Literatur empfohlen, wäre es nicht damit getan, den Titel aus einer Literaturliste zu streichen; dann wäre zu Recht ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden.


Aufsicht des Staates

Dass die Öffentlichkeit sehr sensibel reagiert, wenn rassistisches Gedankengut vertreten wird, ist gut. Verlogen wirkt diese Sensibilität, wenn je nach Provenienz solcher Äußerungen Unterschiede gemacht werden. Der Rechtsstaat muss sein Wächteramt ohne Ansehen der Betroffenen ausüben, wenn es um zweifelhafte Leitbilder und Inhalte geht. Auch Waldorfschulen unterliegen dem Grundgesetz, Artikel 7 Absatz 1: "Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates." Diesem Grundsatz können sie sich nicht dadurch entziehen, dass sie stereotyp darauf verweisen, sie seien keine Weltanschauungsschulen und die Anthroposophie sei kein Gegenstand des Unterrichts. Immerhin führen nicht wenige solcher Schulen "Steiner" im Namen. Name ist Programm. Und zweifellos spielen anthroposophische Inhalte eine große Rolle im Waldorfschulunterricht - man denke nur an Atlantis im Geschichtsunterricht.
Und sonst? Vor allem die Eltern der Waldorfschüler, die gewiss größtenteils keine Anthroposophen sind, sollten wenigstens hellhörig werden. Sodann haben die Kirchen verstärkt die Aufgabe, sich kritisch mit Anthroposophie auseinander zu setzen, auch wenn Letztere bereits am 17. Juli 1919 von Papst Benedikt XV. verurteilt worden ist. Gerade aus kirchlicher Sicht jedenfalls provoziert die Steiner-Gemeinde die Vermutung, auf sie könnte so manches typische Merkmal sektiererischer Gruppen zutreffen: Neben dem totalen Welterklärungsanspruch und dem Großen Meister gilt unter anderem die Inflation an Klagen vor Gericht als charakteristisch, wenn es darum geht, Kritiker zum Schweigen zu bringen.

Zur Person: Der Autor ist Oberstudiendirektor und Präsident des Deutschen Lehrerverbandes.




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