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             Unvorstellbar schäbige Jahre 
              von Stefan Keller  
              aus: Die Wochenzeitung, WoZ 16. November 1999 
               
            Dass die Flüchtlingspolitik während 
              der Nazizeit das mit Abstand schlimmste und unerträglichste 
              Kapitel in der modernen Geschichte des Schweizer Staates war, weiss 
              die Öffentlichkeit schon seit vielen Jahren. Für diese 
              Erkenntnis hätte es keine «Unabhängige Expertenkommission 
              SchweizZweiter Weltkrieg» (UEK) gebraucht, und erst 
              recht nicht braucht es sie zur Belehrung jener alten Patrioten und 
              ehemaligen «Aktivdienstler», die letzten Freitag gleichzeitig 
              zum Flüchtlingsbericht der UEK einen farb- und kraftlosen, 
              von Alfred Cattani verfassten «Gegenbericht» präsentierten. 
              Auch die alten Herren wissen nämlich Bescheid. Sie wussten 
              es vielleicht schon damals, oder sie hätten es zumindest wissen 
              können, als 1938 die erste Schweizer Grenzsperre beschlossen 
              wurde und die Zeitungen gleichzeitig voll waren mit Berichten über 
              Pogrome, Enteignungen, Schutzhaft und Konzentrationslager; oder 
              als 1942 die Zeitungen über Deportationen berichteten, über 
              das spurlose Verschwinden von Hunderttausenden irgendwo «im 
              Osten». 
            Polen sei «zum Schlachthaus der europäischen 
              Juden geworden», erklärte der britische Aussenminister 
              Ende 1942 im Unterhaus, die Schweizer Presse nahm es trotz Bedenken 
              der Zensur zur Kenntnis, die Basler «Nationalzeitung» 
              schrieb in jenen Tagen, Juden «aus allen besetzten Gebieten» 
              würden «unter fürchterlichen Umständen» 
              nach Polen gebracht, wo man sie «systematisch liquidiert». 
              Und bereits im Juli 1942 war in der «Neuen Zürcher Zeitung» 
              von «mehr als einer Million» ermordeter Juden die Rede 
              gewesen. 
              «Die Rothmunds und andere Entscheidungsträger», 
              so sagte der israelische Historiker Saul Friedländer, Mitglied 
              der Expertenkommission, diese Woche in einem Interview, hätten 
              damals «die Wahl» gehabt. Niemand habe mit der Waffe 
              auf sie gezielt und sie zu ihrem Entscheid gezwungen, doch «sie 
              haben beschlossen, nicht zu helfen». Die Kommission datiert 
              den Zeitpunkt, zu dem die Eidgenössische Fremdenpolizei und 
              ihr Chef, Heinrich Rothmund, von der in Gang gesetzten Vernichtung 
              der europäischen Juden Kenntnis nahmen, auf Ende 1941; detaillierte 
              Berichte und Skizzen von Tötungen erhielten die Schweizer Behörden 
              Anfang 1942, erste Fotografien von Leichenhaufen lagen spätestens 
              im Mai 1942 vor; die Bestätigung, dass die Ausrottung planmässig 
              erfolgte, traf im August 1942 ein; von Auschwitz als Todesort ist 
              unter anderem in Akten vom Dezember 1942 die Rede. 
            
            Doch statt zu helfen, schlossen diese «Rothmunds» 
            im August 1942 die Grenze noch hermetischer ab. Sie taten dies in 
            aller Öffentlichkeit. Den «Aktivdienstlern», die 
            sich heute zum Protest gegen die «Junghistoriker» der 
            Kommission organisieren und dabei auf ihre Zeitzeugenschaft pochen, 
            kann dies alles, falls sie wirklich Aktivdienstler waren, damals ja 
            kaum entgangen sein.  
            Neu in dem Bericht der UEK, «Die Schweiz 
              und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus», 
              ist also nicht das Verhalten der Schweizer Behörden, das Carl 
              Ludwig schon 1957 recht schonungslos rekonstruierte. Neu sind auch 
              nicht die 1967 von Alfred A. Häsler eindrücklich erzählten 
              Rückweisungen und Auslieferungen oder die (für immer unvollständige) 
              Zahl der nachweisbar Zurückgeschickten, die Guido Koller 1997 
              ermittelte. Neu ist weder die Mitwisserschaft der Fremdenpolizei, 
              des Bundesrates und eines Teils der Bevölkerung beim nationalsozialistischen 
              Völkermord, über die Gaston Haas 1994 und Walter Laqueur 
              1980 Bücher veröffentlichten, noch die von Jacques Picard 
              ebenfalls 1994 dargestellte schwierige Position der jüdischen 
              Organisationen zwischen angepasster Staatstreue, vertraglich vereinbarter 
              Loyalität zur Polizeiabteilung und kostspieliger Solidarität 
              mit den Opfern. 
            Neu oder speziell ist an dem Bericht  
              neben einer Studie zu den bisher unbekannten Freikäufen holländischer 
              Juden via Finanzplatz Schweiz im Anhang  vor allem die von 
              der Kommission für den Haupttext gewählte konsequente 
              Perspektive «von unten», der Versuch nämlich, all 
              die bereits bekannten Vorgänge aus der Sichtweise der Schwächsten 
              zu erzählen oder zumindest immer wieder zu dieser Sichtweise 
              zurückzukehren und alle anderen Sichtweisen mit ihr zu konfrontieren. 
              Speziell ist auch, so scheint es mir, dass gerade dank dieser an 
              den Verfolgten und nicht an den Behörden orientierten Perspektive 
              mit der Zeit ein sehr dichter Eindruck entsteht vom subjektiven 
              Ursprung des behördlichen Verhaltens und von der emotionalen 
              Motivation der damaligen Politik. Der Bericht der Kommission legt 
              nämlich nahe, dass der amtliche Umgang der Schweiz mit jüdischen 
              Flüchtlingen insgesamt und fast in jedem einzelnen Entscheid 
              von zwei Gefühlen besonders stark geleitet war: vom Judenhass 
              und von einem ordinären, alles überwuchernden wirtschaftlichen 
              Eigennutz oder Geiz. Erst beide Faktoren zusammen, der Antisemitismus 
              und der Geiz, ergeben das Bild einer bisher zu wenig bekannten moralischen 
              Gemeinheit und Lumperei, das Bild einer Epoche von unvorstellbarer 
              Schäbigkeit: Man hat damals nicht nur Juden ausgeschafft, man 
              hat ihnen in mehreren Fällen vorher auch noch ihr bisschen 
              Geld weggenommen und auf ein Sperrkonto bei der Schweizerischen 
              Volksbank einbezahlt (anderen wurden Geld und Schmuck von Schweizer 
              Soldaten auf eigene Rechnung gestohlen). Man hat nicht nur Flüchtlinge 
              den Deutschen übergeben, man hat den Deutschen auch  
              Joseph Spring war kein Einzelfall  die wahre Identität 
              dieser Flüchtlinge verraten, wenn sie gefälschte «arische» 
              Papiere besassen. Man hat in mindestens einem Fall zusammen mit 
              einem Flüchtling dessen Verhörprotokoll zur Gestapo gebracht 
              und die Deutschen auf solche Weise über den jüdischen 
              Widerstand in Belgien informiert. 
            Es gibt nicht viele Niederträchtigkeiten, 
              die man den Juden in Schweizer Amtsstuben und im Niemandsland an 
              der Grenze nicht angetan hat, sei es in Genf, wo Flüchtlinge 
              regelrecht gefoltert wurden (erst auf Veranlassung der holländischen 
              Gesandtschaft wurde gegen zwei Beamte ermittelt), sei es im Waadtländer 
              Jura, wo die Umgangsformen nur wenig höflicher waren (hier 
              wurde nicht ermittelt), oder sei es im Thurgau, wo man die Bedrohung 
              der Juden im nahen Deutschland gegen alles empirische Wissen immer 
              wieder bestritt und gleichzeitig von den Flüchtlingen die landesweit 
              höchsten Kautionen verlangte. Der zuständige Thurgauer 
              Regierungsrat Paul Altwegg (Ständeratspräsident 1945) 
              brachte es noch ein Jahr nach Kriegsende fertig, dem seit den zwanziger 
              Jahren in Kreuzlingen als Geschäftsmann tätigen Juden 
              Markus H. schriftlich mitzuteilen, der Regierung sei unbekannt, 
              warum er nach seiner Ausweisung 1938 nicht in Deutschland geblieben 
              sei. 
              Ein junges Mädchen in Genf, eine 15-jährige Französin, 
              wurde 1943 ausgeschafft und ermordet, nachdem sie von Schweizer 
              Soldaten sexuell belästigt worden war. Laut den Akten hatte 
              sie schon vorher erotische Kontakte zu Flüchtlingen und war 
              deshalb für das Schweizer Asyl «unwürdig» 
              geworden. Zum Hass auf die Juden kam die Verachtung der Frauen; 
              andere weibliche Flüchtlinge fielen unangenehm auf, weil sie 
              sich schminkten oder weil sie in der Öffentlichkeit rauchten, 
              man hat ihnen das verboten. Verabscheuungswürdig empfanden 
              Beamte sogar den «jüdischen» Appetit von Menschen, 
              die unterernährt ins Land gekommen waren, und allgemein bedrohlich 
              für die Schweiz erschien der Obrigkeit neben der vermuteten 
              speziell «jüdischen» Sexbesessenheit die ebenfalls 
              vermutete «jüdische» Geschäftstüchtigkeit. 
              Umgekehrt liess die gleiche Obrigkeit jedoch keine Gelegenheit aus, 
              um den «Israeliten» möglichst viel Geld abzupressen: 
              Für vermögende Flüchtlinge wurde eine nur rassistisch 
              legitimierte Sondersteuer eingeführt, und wenn die einheimischen 
              Juden, die quasi als Bürgen für die Kosten aller jüdischen 
              Flüchtlinge haftbar gemacht worden sind, Hilfsgelder aus den 
              USA erhielten, hat die Schweizerische Nationalbank ihnen beim Umwechseln 
              der Dollars auch noch einen speziell schlechten Kurs berechnet. 
              Als der Krieg dann zu Ende ging, als die Siegermächte den Bundesrat 
              zwangen, die bekannten Nazivermögen auf Schweizer Banken einzufrieren, 
              hat man die Konten von Flüchtlingen ebenfalls blockiert: Die 
              Juden, deren Ausbürgerung aus Deutschland 1941 bei der Schweizer 
              Fremdenpolizei widerstandslos akzeptiert und nachvollzogen worden 
              war, galten jetzt, da es um ein paar Franken ging, plötzlich 
              wieder als Deutsche. Dessen ungeachtet trieb man sie zur schnellen 
              Ausreise, und manche haben ihr Geld später nie mehr gesehen. 
            Nicht nur Juden wurden schlecht behandelt, 
              im Stich gelassen oder voller Verachtung zurückgejagt, in Schweizer 
              Lagern entmündigt und «erzogen», aber auch gerettet (23 000 Juden 
              und als Juden verfolgte Flüchtlinge wurden zwischen 1939 und 1945 
              immerhin aufgenommen). Von den Sinti und Roma, über deren Schicksal 
              bei der UEK eine spezielle Studie in Arbeit ist, hiess es zum Beispiel 
              1935, allein schon «der Anblick der schmutzigen Pässe und der darin 
              eingeklebten Zigeunerfotos» genüge als Anlass für ihre Abweisung. 
              Auch polnische und russische Zwangsarbeiter und sogar entwichene 
              Kriegsgefangene brachte man mitten im Krieg nach Deutschland zurück 
               der Gesandte Hans Frölicher hatte den Nazis in Berlin die äusserst 
              willkommene, aber für die Betroffenen vollständig wertlose Aussage 
              entlockt, Kriegsgefangene würden in Deutschland «den internationalen 
              Abkommen entsprechend» behandelt. Frölicher und Rothmund taten, 
              als glaubten sie das; bei entwichenen britischen Kriegsgefangenen 
              schreckte Letzterer voreiner Auslieferung allerdings zurück.  
            Und es war nicht, wie häufig 
              behauptet wird, die existenzielle Not, welche die Schweizer Behörden 
              so handeln liess; auch dafür legt die Kommission jetzt Beweise 
              vor. Als zum Beispiel im September 1942 das US-amerikanische Rote 
              Kreuz Lebensmittel in die Schweiz schicken wollte, damit zusätzliche 
              jüdische Kinder aufgenommen werden konnten, war man in Bern 
              keineswegs dankbar, sondern man lehnte das Ansinnen ab: «Zurzeit 
              sind es nicht die Nahrungsmittel, die uns Schwierigkeiten bereiten», 
              schrieb Aussenminister Marcel Pilet-Golaz am 20. September in die 
              Akten  zwei Tage später vertrat Kollege Eduard von Steiger 
              vor dem Parlament eine harte Flüchtlingspolitik und erwähnte 
              «insbesondere das Problem der Nahrungsmittelversorgung». 
              Der heutige Bundesrat hat letzten Freitag in einer denkwürdigen 
              und aus wahrlich grösster Konkordanz entstandenen Erklärung 
              zu den Ergebnissen des Flüchtlingsberichtes Stellung genommen. 
              Natürlich verdammt er den Antisemitismus und den Rassismus. 
              Gewiss tut der Regierung vieles Leid, was damals an Ungerechtigkeiten 
              geschah, und die Bitte um Entschuldigung von 1995 wurde wenigstens 
              implizit erneuert. Doch aufgrund eines von der Kommission eingeholten 
              und als Beiheft veröffentlichten Gutachtens des Berner Rechtsprofessors 
              Walter Kälin  dieser hat vor einigen Jahren auch die 
              rassistischen Zwangsmassnahmen im heutigen Ausländerrecht gutachterlich 
              abgesegnet  fühlt sich der Bundesrat durch den UEK-Bericht 
              juristisch entlastet: Die Vorgehensweisen der damaligen Behörden 
              hätten den «Normen des Völkerrechts» entsprochen 
              (vgl. Kommentar von Paul Rechsteiner). Die Ablieferung von Flüchtlingen 
              bei ihren Mördern war laut Kälin eben nicht verboten. 
              Der Bundesrat geht in dieser Betrachtungweise sogar noch weiter 
              und behauptet kühn, auch die Menschen vor sechzig Jahren hätten 
              ein Verbrechen nicht als Verbrechen empfunden: Der durch den Flüchtlingsbericht 
              «ausgelöste Bewusstwerdungsprozess», so sagte die 
              Regierung am 10. Dezember 1999, «darf uns nicht dazu verleiten, 
              die Verantwortlichen von damals auf der Basis heutiger Empfindungen 
              zu verurteilen.»  
               
              
             
             
              Unabhängige Expertenkommission SchweizZweiter Weltkrieg 
              (Hrsg.): «Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des 
              Nationalsozialismus», EDMZ, 3003 Bern, 1999, 360 Seiten, 35 
              Franken. Dazu vier Beihefte: «Le transit ferroviaire 
              de personnes à travers la Suisse pendant la Seconde Guerre 
              mondiale», 30 Seiten. 6 Franken. 
              «Die Schweiz und die deutschen Lösegelderpressungen in 
              den besetzten Niederlanden», 199 Seiten. 25 Franken. 
              «Flüchtlinge als Thema der öffentlichen politischen 
              Kommunikation in der Schweiz 19381947», 194 Seiten. 
              25 Franken. 
              «Rechtliche Aspekte der schweizerischen Flüchtlingspolitik 
              im Zweiten Weltkrieg. Gutachten erstattet von Professor Walter Kälin», 
              184 Seiten. 25 Franken. 
            
             
                
               
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