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Brief an Stefan Mächler

Binjamin Wilkomirski: Literaturpreis aberkannt

QU: Neue Zürcher Zeitung, 12. Juli 2000

web. Die Stadt Zürich distanziert sich von einer Ehrung Binjamin Wilkomirskis alias Bruno Doessekkers im Jahre 1995. Dies teilte das Präsidialdepartement am Dienstag mit. 1995 zeichnete die Stadt Zürich das Buch «Bruchstücke» von Binjamin Wilkomirski mit einer Ehrengabe von 6000 Franken aus. Die Literaturkommission hatte ihren Antrag damals mit der literarischen Qualität des Textes begründet, welche «Zweifel an seiner Authentizität zum Verstummen» bringe. Bekanntlich hat sich die Sachlage inzwischen verändert. Und der Entscheid auf Aberkennung der Ehrung kommt relativ spät.

Bereits 1998 äusserte Daniel Ganzfried auf Grund seiner Recherchen in der «Weltwoche» schwere Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Identität Wilkomirskis und seiner Kindheitserinnerungen. Der Autor heisse eigentlich Bruno Doessekker und sei weder jüdischer Abstammung noch in einem KZ gewesen. Der Verdacht auf Fälschung verdichtete sich zunehmend, im letzten Herbst zog der Suhrkamp-Verlag das umstrittene Buch zurück. Im Präsidialdepartement habe indes, wie Roman Hess, der Sekretär der Literaturkommission, auf Anfrage sagt, der Grundsatz in dubio pro reo gegolten. Die neusten Untersuchungen von Stefan Mächler (NZZ 8. 7. 00) hätten nun bewiesen, dass es sich bei «Bruchstücke» um eine frei erfundene Autobiographie handle und dass sich der Autor Binjamin Wilkomirski alias Bruno Doessekker auf keine jüdische Identität berufen könne, weshalb sich die Stadt Zürich von Autor und Buch distanziere und die verliehene Ehrung zurücknehme. Es gehe nicht an, sich als Opfer konkreter historischer Vorfälle dazustellen, sagt Hess: «Identitäten wie jene der Holocaust-Opfer stehen nicht einfach zur freien Verfügung.»

Die Stadt werde allerdings das Preisgeld nicht zurückfordern: «Wenn der Autor daraus diese Konsequenz ziehen will, kann er das Geld zurückzahlen.»

Biographie. Kein Spiel
QU: Neue Zürcher Zeitung, 8. Juli 2000

Stefan Mächlers Recherche über Binjamin Wilkomirski
Lange bevor der Psychoanalytiker William G. Niederland mit der Studie «Folgen der Verfolgung. Das Überlebenden-Syndrom Seelenmord» ein Pionierwerk über die psychischen Beschädigungen (jugendlicher) Holocaust-Überlebender vorgelegt hat, war es sein 1965 publizierter Essay, welcher mittelbar zum Sturz eines Jahrhundertdenkmals führte. Niederlands psycho-biographische Studie von Heinrich Schliemanns oft fiktiven, ja phantasmagorischen «autobiographischen» Schriften senkte in die Fachwelt jenen Keim des Zweifels, aus welchem im Laufe der siebziger Jahre akribische Quellenforschungen erwuchsen. Als der Philologe William Calder III die Schliemann'sche Autobiographie als Fiktion offenbarte, war das Entsetzen der Öffentlichkeit gross: Man hatte mit dem Entdecker-Helden eine Integrationsfigur und ein Symbol verloren. Wurde am Fall Schliemann der Leitwert von der «hehren Wissenschaft» touchiert, so verhandelt man nun an der Causa Wilkomirski eine ideelle Übereinkunft des 20. Jahrhunderts: Respekt vor und Empathie gegenüber den (überlebenden) Opfern der Shoah.

Erweisen Historikerstreit, Restitutionsdebakel und Querelen um das Berliner Holocaust-Memorial das Ringen um eine adäquate Form «öffentlicher» Erinnerungskultur, so schien mit der Memoirenliteratur ein authentisches Medium für die individuelle Vergegenwärtigung zuhanden: Die ungebrochene Konjunktur «Anne Franks», der Widerhall, den die literarisierten Erinnerungen von Ruth Klüger, Louis Begley und Imre Kertész finden, belegen den unstillbaren Hunger nach Exemplifizierung des Unvorstellbaren. Als im Jüdischen Verlag des Hauses Suhrkamp 1995 unter dem Titel «Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948» ein in der ersten Person Singular verfasster Text über die traumatische Odyssee eines jüdischen Knaben herauskam, schien ein neues Kapitel in der Geschichte der Evokation des Grauens aufgeschlagen: Selten wurden Verstörung, Gewalt und Terror in so eindringliche Worte und Bilder gefasst wie in dem schmalen Band, selten wurden ultime physische und psychische Bedrohung auf so unerträgliche Weise suggeriert wie in dieser fragmentarischen Prosa.

Was Wunder, dass - rund um den Erdball - die «Bruchstücke» für Aufsehen sorgten und mit ihnen der Autor Binjamin Wilkomirski, ein unter dem bürgerlichen Namen Bruno Doessekker in der Schweiz lebender Musiker. Entsprechend tragisch war die Fallhöhe, als Daniel Ganzfried im August 1998 in der «Weltwoche» deklarierte, Wilkomirski sei «nie als Insasse in einem Konzentrationslager» gewesen, sondern vielmehr ein 1941 als Bruno Grosjean in Biel geborener Schweizer Bürger. Die Aufregung darob war gewaltig und ist es bis zum heutigen Tage, als sich Ganzfrieds insistierende Artikel inzwischen auf den Vorwurf planmässig kalkulierten Betrugs eingeschossen haben. Anlass für die literarische Agentur Liepmann, die 1994 das Manuskript entgegengenommen und die Rechte weltweit vermittelt hatte, ihrerseits eine historische Überprüfung in Auftrag zu geben: Mit dem Band «Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie» des Historikers Stefan Mächler liegen deren Ergebnisse nun auch öffentlich vor.

Umwege
In einer ausgreifenden, spiralförmig kreisenden Bewegung nähert sich Mächler der Frage nach der Authentizität des «Bruchstücke»-Textes. Der Studie ist es mitnichten um eine eilfertige Erledigung der vordergründigen Entscheidungsfrage «Lügt Wilkomirski?» zu tun: Mächlers Methode ist das geduldige Abschreiten der Hintergründe, und es erweist sich, dass es einer langen und langsamen Schrittfolge bedarf, um die Sprüche und Widersprüche, die Beobachtungen und Erkundungen, Zeugen und Zeugnisse in einer Gesamtdarstellung zu verstauen. Der Abschnitt «Wilkomirski erzählt» bietet auf breitestem Raum eine Bühne für die Selbstdarstellung von Person und Autor: Wo der extensiv zitierte Originaltext nicht hinreicht, fügt Mächler Passagen aus Selbstaussagen ein. Wir erkennen Strukturen und Muster von Wilkomirskis «Überzeugungsarbeit» und ahnen, warum den Inkongruenzen «seiner» Geschichte so schwer zu widersprechen gewesen ist. Im Schutz der Vorgabe einer fundamentalen Traumatisierung durch ungeheuerliche frühkindliche Erlebnisse schafft die strategisch placierte Gedächtnislücke einen unüberprüfbaren Raum, dient andererseits das einzelne «photographisch genau» memorierte Detail als historisches Echtheitszertifikat.

Ein dem Kinde von unbekannter Hand aus Polen mitgegebener Löffel mit den Aufschriften «KL Lublin» / «Blockov 5» etwa vergegenständlicht einerseits das Dortgewesensein, lässt sich andererseits aber auch als aggressiv geführte Waffe der Denunziation verwenden: Die Zürcher Adoptiveltern hätten ihm nicht nur das Verschweigen und Vergessen seiner Herkunft gewaltsam aufoktroyiert, sondern ihn durch die Konfiskation der persönlichen Gegenstände ein weiteres Mal um sein Vorleben gebracht. So changiert Wilkomirskis Rede zwischen grausigen Lager-Erinnerungspartikeln und hässlichen Insinuierungen hinsichtlich einer schweizerischen Nachkriegsgesellschaft, die den heimatlosen Knaben gewissermassen auf ihre Weise noch einmal «vernichtet» habe. Das Oszillieren zwischen Erlebnis und Interpretation, zwischen Erinnerung und Traum ermöglicht ein Wahr-Sagen eigener Art. Zweifellos sprechen Wilkomirskis Aussagen wahrhaftig von einer Art «Realität»: Die Crux dabei ist, dass die Rezeption als faktischen Realismus auffasste, was Wilkomirski als psychische Realität verstand.

Eindringlich lässt sich verfolgen, wie sich der Musiker Doessekker während der sechziger Jahre allmählich auf sein künftiges Lebensthema einzuspielen beginnt: Das Studium der Geschichte soll helfen, die Identitätswurzeln aufzuspüren, eine Doktorarbeit über die jüdische Migration in Osteuropa 1918-1938 bleibt allerdings unvollendet. Er reist mehrmals nach Polen und trägt ungeheure Mengen von Forschungsliteratur zusammen. Als er mit dem israelischen Psychiater Elitsur Bernstein und Verena Piller um 1980 herum einen Freund und eine neue Lebensgefährtin gewinnt, scheint damit eine von Krisen und Krankheit geprägte biographische Periode abgeschlossen. Beide ermuntern ihn nun, seinen quälenden Albträumen, Erinnerungen und Seelenzuständen in Wort und Schrift Ausdruck zu schaffen. Mehrere gemeinsame Reisen führen in den frühen neunziger Jahren an die polnischen Topographien des Terrors (Auschwitz und Birkenau, Majdanek und Krakau), oft wurden die Begehungen in Videoaufnahmen dokumentiert. Die bewegenden Bilder - fürderhin dienliches «Beweismaterial» - muten umso befremdlicher an, als Wilkomirskis vorgebliche Bewusstseinserweckung von seinen engsten Vertrauten abgefilmt wird wie das Verhalten eines Versuchstiers.

Das Moment des Wiedererkennens wird fortan zum Leitmotiv und formuliert sich etwa auch in jener Methode der Erinnerungs- und Trauerarbeit, die Wilkomirski und Bernstein als Variante der «Recovered Memory Therapy» seit 1996 weltweit auf Fachkongressen präsentieren: Durch die Zusammenarbeit von Historikern und Psychologen sei die Glasglocke frühkindlich empfangener Traumata zu lüften. Wilkomirski figuriert in der Doppelrolle als Zeuge und Historiker, gecoacht von dem omnipräsenten Bernstein und bestärkt von der Lebenspartnerin, die keine Mühen scheut, in Interviews noch das privateste Leidenssymptom wortreich zu entfalten. Mag Ganzfrieds These von einer systematischen «Erfindung und Konfektionierung der Figur Wilkomirski» gar radikal anmuten, so ist doch augenfällig, wie es die konsequent und konzertiert kooperierende Konstellation Wilkomirski/Piller/Bernstein vermochte, Evidenzen zu erzeugen, welche von Laienpublikum und Fachwelt, ja selbst von Zeitzeugen als unzweifelhaft akzeptiert wurden.

Kette von Alibi-Handlungen
All dies hätte freilich nie zu solch wirksamer Perfektion gefunden, hätte der Verlag den schon kurz nach der Akquisition der Rechte vernehmbaren warnenden Stimmen Glauben geschenkt. Die Chronologie der hektischen Bemühungen von Verlags- und Agenturseite, Dokumente und Zeugnisse zur Widerlegung der Zweifel beizubringen, erweist sich als Kette von Alibi-Handlungen, chaotisch sekundiert vom Diskant der hoch emotionalen Begleitstimme Wilkomirskis. Suhrkamp- Beschimpfung zu betreiben, hiesse indes, das übliche Reiz-Reaktions-Schema in «Fälschungs»- Fällen zu perpetuieren. Wilkomirskis im Juni 1995 dem Text hinzugefügte Nachbemerkung rekurriert auf das Schicksal der mit falschen Staatsbürgerpapieren versehenen «Kinder ohne Identität» und schliesst sentenziös: «Die juristisch beglaubigte Wahrheit ist eine Sache, die eines Lebens eine andere.» Damit scheinen die «Bruchstücke» fürs Erste «wasserdicht» und treten ihren Weg an die Öffentlichkeit an.

Die Chronik der spektakulären - erst applaudierenden, nach Daniel Ganzfrieds Hinweisen ebenso disqualifizierenden - Rezeption liest sich wie ein Exempel für die Macht der Induktion: Die «Bruchstücke» erzeugen - je nach der Perspektive - als «authentisches Zeugnis» ebenso «Sinn», wie sie die Annahme einer «Fälschung» oder eines fiktiven Konstruktes durch zahlreiche Indizien bestätigen. Wird hier das Bruchstückhafte, Irrlichternde, die sonderbare Verschwisterung von Detailrealismus und raunendem Halbdunkel als Ausdruck von Traumatisierung und Ichverlust deutbar, können dieselben Textmerkmale als Beleg für die Non-sequitur-Strategien einer ausgefuchsten Fiktion geltend gemacht werden. So trivial diese Einsicht in die Umkehrbarkeit von Perspektiven und Interpretationen, so peinlich wurde sie dort, wo das Kapital der Dignität von Holocaust-Opfern mittelbar auf dem Spiel stand.

Punkt für Punkt leuchtet Mächler die in «Bruchstücken» und Selbstaussagen angelegten Schummerzonen aus und bahnt einen Weg durch das Gestrüpp von Reden und Widerreden, in welchen Wilkomirski sich im Laufe der Zeit verheddert hat. Die Befragung der Materialien gestaltet sich peinsam und peinigend, da die autobiographische Indiskretion erstens wiederholt, dann aber im Zuge der Überprüfung weit über das Erträgliche hinaus weitergetrieben werden muss. Angesichts dessen scheint es auf makabre Weise fast humoristisch, wenn der Sohn der Pflegefamilie in Nidau bei der Lektüre des in den «Bruchstücken» geschilderten polnischen Kleinbauernhofes spontan sein schweizerisches Heimatbiotop wieder erkennt. «Mit so viel Authentizität», schreibt Mächler, habe er «nicht gerechnet»: Das Buch erzähle «in atemberaubender Verfremdung [ein] eigenes Leben, dasjenige von Bruno Grosjean».

Wenn Mächler damit explizit den von Daniel Ganzfried wiederholt geäusserten Vermutungen einer vorsätzlich geplanten und ins Werk gesetzten Fälschung widerspricht und dagegen die psychische «Wahrheit» von Wilkomirskis Über-Identifikation mit den Opfern des Holocaust proklamiert, plädiert er implizit für den sanfteren Weg. Die von ihm vorwiegend unpolemisch dargestellte Genese des «Falls Wilkomirski» beleuchtet eindringlich die Falle, in welche sich die Rezeption locken liess - es ist die Falle der Bedeutung der drei Buchstaben ICH. Dass die Natur dieses «Ich»-Sagens von Anbeginn an nicht offen diskutiert worden ist und Einsprüche aus einer Art Opfer-overcare unterblieben (mitunter gar verhindert worden) sind, ist das eigentlich Fatale. Jetzt, da Hardcover- und Taschenbuchausgabe gesperrt worden sind, die Agentur das Mandat zurückgegeben hat und die Zürcher Staatsanwaltschaft gegen Doessekker/Wilkomirski ermittelt, wäre der Zeitpunkt, von der Häme zu lassen. Christiane Zintzen
Link zur Neuen Zürcher Zeitung

Der Fall Wilkomirski: Angebliches Holocaust-Opfer endgültig entlarvt
QU: Bierler Tagblatt, 5. Juli 2000

Akribische Spurensuche in Nidau

Die Holocaust-Biografie Wilkomirskis wurde mit zahlreichen Preisen geehrt. Ein Buch entlarvt die Biografie als Fiktion: Der Autor wurde in Biel geboren und bei einer Nidauer Familie platziert.

LT. Als «Binjamin Wilkomirski» hat Bruno Doessekker weltweit Aufmerksamkeit erregt. Sein angeblich autobiografisches Buch «Bruchstücke», seine durch eine Psychoanalyse hervorgeholten «Erinnerungen», wie er als Kleinkind in Polen zwei Konzentrationslager überlebt hatte, haben ihm in Europa, Israel und den USA Literaturpreise und Mitgefühl eingebracht.

Doessekkers 1995 erschienene Holocaust-Biografie wurde jedoch bereits 1998 durch eine Recherche von Daniel Ganzfried als Fiktion entlarvt. Dem Berner Journalisten wurde Einblick in Akten der Bieler Amtsvormundschaft gewährt, die Doessekker als unehelichen Sohn der Bielerin Yvonne Grosjean auswiesen.

Doch Doessekker, alias Wilkomirski, gab nicht auf: Er behauptete, bei der Adoption durch das Zürcher Ehepaar Doessekker mit dem echten Bruno Grosjean verwechselt worden zu sein.

Den Beweis, dass Doessekker tatsächlich mit Bruno Grosjean identisch ist, hat nun der Historiker Stefan Mächler in seinem im Pendo-Verlag erschienenen Buch «Der Fall Wilkomirski» erbracht: Am 11. Juni 1944 wurde der damals dreijährige Bruno in Nidau bei der Familie Aeberhard platziert - während der Zeit, als er angeblich in Polen als Jude verfolgt und in Konzentrationslagern interniert war. Mächler sprach mit ehemaligen Schulkollegen Doessekkers, mit der Jüdin Karola, deren Erinnerungen an den Holocaust dieser als eigene ausgibt, mit einer Lehrerin und vielen anderen Zeugen.

Doch den wichtigsten Beweis, dass Doessekker identisch mit Grosjean ist, fand Mächler in Nidau: René Aeberhard, der Sohn der Familie, die Doessekker während eines dreiviertel Jahres aufgenommen hatte, identifizierte ihn anhand von Fotos.

In Nidau hat Doessekker/Wilkomirski auch ein echtes Trauma erlitten: Die Pflegemutter, vermutlich psychisch krank, terrorisierte das damals dreijährige Kind.

Traumatisch war auch Doessekkers Start ins Leben: Im dritten Monat ihrer Schwangerschaft wurde Yvonne Grosjean von einem Auto angefahren, schwer verletzt und fiel für längere Zeit ins Koma. Für die danach behinderte, unverheiratete Frau war es während der 40er-Jahre unmöglich, ihr Kind grosszuziehen. Sie platzierte Bruno bei der Familie Aeberhard in Nidau, später musste sie ihn zur Adoption freigeben.

Nidau: Auf den Spuren eines Biografie-Betrügers

Der Beweis fand sich im Grasgarten

Die Bäuerin sass am Boden, mit zerrissenen Kleidern, mit zerfleddertem Haar, und sie weinte! Die Bäuerin konnte weinen! Die Bäuerin, diese mächtige Frau, die so böse und grausam sein konnte. (...) Sie konnte weinen? (Bruno Doessekker in «Bruchstücke».)
*
Als der dreijährige Bub 1944 seiner Pflegemutter Frau Aeberhard zum ersten Mal begegnete, wuchs beim Grasgartenweg in Nidau tatsächlich viel Gras: Nur vier Häuser gab es damals an der ehemaligen Nidauer Hauptstrasse. Drei behäbige Kleinbauernhäuser mit etwas Umschwung hatte ein reicher Mann bauen lassen. Das vierte Gebäude, ein bescheidenes Zweifamilienhaus, war das erste dieser Art an der schmalen Strasse, die heute links und rechts von Einfamilienhäusern mit Gärten gesäumt ist.
Zeitzeugen, die das Kind Bruno gekannt haben, gibt es 56 Jahre später fast keine mehr: Sie sind gestorben, ausgewandert oder können sich nicht mehr an den schmalen Bub mit den glatten, dunkelblonden Haaren erinnern. Die Erinnerung an seine Pflegemutter Frau Aeberhard dagegen lebt weiter: Eine böse Frau sei sie gewesen, erzählen Nachbarn, eine herrschsüchtige, eine unberechenbare, eine unheimliche Frau. Eine, die den sechsten Sinn gehabt habe.
Ihre Grossmutter, sagt die Enkelin, sei vermutlich manisch-depressiv gewesen. Ihr Vater habe selten über seine Mutter erzählt. Denn deren unberechenbare Wutanfälle hätten ihn ebenso traumatisiert wie Bruno.
Doch mit der Grossmutter, sagt die Enkelin, habe sie auch gute Zeiten erlebt: «Als Kinder hatten wir oft mit ihr zusammen gelacht.» Grossmutter sei eine überaus intelligente Frau gewesen. Sie habe gleichzeitig stricken, Radio hören und lesen können: «Wenn man Grossmutter fragte, wusste sie, was im Radio erzählt worden war, was sie gelesen hatte und die Socke hatte nie eine Fallmasche.»
Die Erinnerungen an Bruno sind aus zweiter Hand. Er soll von Frau Aeberhard geschlagen worden sein. Er habe sich vor ihren Wutanfällen gefürchtet. Sie soll ihn im Keller eingesperrt haben. Bruno, heisst es, habe nicht genug zu essen bekommen. Eine Nachbarin habe sich seiner erbarmt und ihm ab und zu einen Bissen zugesteckt.
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In der Nähe floss ein Kanal vorbei. Über den schmalen Steg eines Stauwehrs konnte man auf die andere Seite gelangen, zu einer Wiese, auf der sie (Bruno und die beiden Söhne der Familie Aeberhard, die Red.) manchmal spielen durften (Stefan Mächler in «Der Fall Wilkomirski»).
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Auf der Wiese am Nidau-Büren-Kanal steht heute das Haus der Enkelin von Frau Aeberhard. Im Mai 1999 wurde sie wiederholt vom Historiker Stefan Mächler und dem BBC-Journalisten Wolf Gebhard angerufen. Beide fragten nach ihrem Vater René Aeberhard, der vor Jahrzehnten nach Florida ausgewandert war. Die Männer, sagt die Enkelin, hätten sehr geheimnisvoll getan; den Grund ihrer Anrufe wollten sie nicht nennen.
Als sich schliesslich eine Gemeindeangestellte bei der Enkelin meldete, weil auch sie mehrere Anfragen von BBC erhalten hatte, stellte die Enkelin die Anrufer vor das Ultimatum: «Entweder ihr sagt mir, was los ist, oder ihr hört kein Wort mehr von mir.» Denn ihr sei richtig flau geworden, sie habe sich gefragt, ob ihr Vater etwas angestellt habe.
René Aeberhard ist der einzige Mann dieses Namens in den USA. Und er ist vermutlich der letzte Mensch, der bezeugen kann, dass es der damals dreijährige Bruno Grosjean war, der während des Zweiten Weltkrieges auf dem Hof in Nidau lebte: Aeberhard ist der Sohn von Brunos Pflegemutter, er hat mit ihm unter einem Dach gelebt. «Mein Vater ist der Kronzeuge in Mächlers Buch», sagt die Enkelin.
Bruno Grosjean, in Biel geboren, im Grasgarten platziert und danach von der Zürcher Familie Doessekker adoptiert, hat als «Binjamin Wilkomirski» weltweit Aufsehen erregt: In seinem Buch «Bruchstücke» behauptet er, ein polnischer Jude zu sein; als Kleinkind in den Konzentrationslagern Auschwitz und Majdanek überlebt und bei einer Bauernfamilie in Polen Unterschlupf gefunden zu haben.
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Motti hatte aus Papier und Stäbchen ein Segelflugzeug gebastelt. Ausnahmeweise durften sie am Abend auf eine Anhöhe steigen und das Flugzeug auf einer Wiese beim Waldrand steigen lassen. Viel später bekämpfte er (Bruno) immer seine Alpträume, indem er zur Wiese beim Waldrand zurückging (Mächler).
War Motti, Brunos Bruder, in Wirklichkeit René Aeberhard? Die Modellflugzeuge, mit denen er und sein Kamerad gespielt hatten, existieren fünf Jahrzehnte später noch immer: Die Enkelin bewahrt sie in ihrem Estrich auf. Die Anhöhe, die Doessekker/Wilkomirski in seinem Buch «Bruchstücke» beschreibt, ist die Hub oberhalb von Nidau.
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Am Gehöft vorbei floss ein Kanal. Wir mussten über den schmalen Steg zum Stauwehr gehen (...). Die einzige Geländerstange war mir zu hoch, und ich fürchtete die tiefen Strudel unter der Brücke (Doessekker).
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Die Schüsse, die dem Kind Bruno Angst machten, wurden auf dem Schiessstand Spärs in Port abgegeben. Die Soldaten, die an die Tür seiner Pflegemutter polterten und Bruno einen furchtbaren Schrecken einjagten, waren auf dem Nachbarsbauernhof Rufer, heute ein Altersheim, einquartiert. Der Kanal vor dem Bauernhaus, das Wehr mit den dröhnenden Wirbeln darunter: All dies trifft auf den Nidau-Büren-Kanal zu, bevor das Wasser durch die Zweite Juragewässer-Korrektion abgesenkt und die Brücke neu gebaut wurde.
Das Erinnerungsvermögen Bruno Doessekkers an seine frühe Kindheit ist erstaunlich. Eine einzige Angabe in seiner Schilderung erwies sich nach Mächlers Recherche als falsch: Der Bauernhof befindet sich nicht, wie von Doessekker behauptet in Zamocs in Polen, sondern in Nidau am Grasgartenweg.
Daran, dass Doessekker/Wilkomirski das Pflegekind der Familie Aeberhard gewesen sei, gebe es keinen Zweifel, erklärt die Enkelin. Mächler habe ihrem Vater einen Stoss Bilder von kleinen Buben aus den 40er-Jahren vorgelegt. Der 76-Jährige - er reiste extra von Holland, wo er Verwandte besucht hatte, in die Schweiz - habe ohne Zögern die Fotos von Bruno identifiziert.
René Aeberhard sprach auch mit dem BBC-Journalisten Gebhard. Die Dreharbeiten von BBC über die Kindheit von Doessekker/Wilkomirski waren bereits etwa zur Hälfte abgeschlossen, als die Journalisten merkten, dass mit der Biografie etwas nicht stimmen konnte. Im Film wird Doessekker beim Besuch eines Konzentrationslagers gezeigt, in das er als Kind angeblich interniert worden war. Mit hoher, brechender Stimme, ein Taschentuch vor den Mund haltend, beschreibt er seine Gefühle. Mit der Kippa im nun stark dauergewellten Haar, mit Backenbart und gebeugt von der Last seiner angeblichen Erinnerung, führt Doessekker/Wilkomirski durch den Film, der seine Lügen entlarvt. Als er von Brunos Betrug erfahren habe, erzählt die Enkelin, sei ihr Vater sehr aufgebracht gewesen: «Inzwischen ist seine Wut Mitleid gewichen.»
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Ich bin neugierig, ob (René) Aeberhard nach der Rückkehr in die USA ein Foto des kleinen Bruno finden wird und rufe ihn am 10. Juni an. (...) Die überall gesuchten Fotos von Bruno kommen nie zum Vorschein (Mächler).
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Akten auf dem Bieler Vormundschaftsamt weisen Doessekker/Wilkomirski als Sohn der Yvonne Grosjean aus, sein leiblicher Vater wurde gefunden, eine Jüdin erklärt, Doessekker habe ihre Biografie als Holocaust-Opfer übernommen, Schulkollegen und eine Lehrerin haben «Erinnerungen» als Erfindung entlarvt, René Aeberhard hat ihn auf Fotos identifiziert. Doch das letzte, das ultimative, unumstössliche Beweisstück fehlt: Das Foto, das das Kind Bruno auf den Schultern von René Aeberhard zeigt.
Die Enkelin und ihr Vater haben fieberhaft nach diesem Bild gesucht. In den USA, in der Schweiz, im Estrich, in Alben, in Schränken, einfach überall. Doch das Bild blieb verschwunden. Erst jetzt erinnert sich die Enkelin weshalb: Als Kleinkind hat ihr eigener Sohn alle Bilder aus einem Album zerrissen.
Jene, die nur einmal durchgerissen waren, hat die Enkelin wieder zusammengeklebt. Die anderen hat sie weggeworfen.
Lotti Teuscher

 

Die heillose Therapie
Stefan Mächlers Recherche zum «Fall Wilkomirski» - und unserer Mitbeteiligung
QU: St. Galler Tagblatt, 23.6.2000

Jetzt sind alle Zweifel ausgeräumt: Binjamin Wilkomirski hat seine furchtbare KZ-Kindheit erfunden. Der Historiker Stefan Mächler hat den Fall recherchiert, heute erscheint sein Buch.

Peter Surber

Zwei Kindheiten. Die erste ist jene des Bruno Grosjean, 1941 als uneheliches Kind in Biel geboren, verschiedene Heimaufenthalte, 1945 als Pflegekind vom vermögenden Zürcher Arzt-Ehepaar Dössekker aufgenommen und 1957 adoptiert.
Die zweite ist jene des Binjamin Wilkomirski, 1938 oder '39 in Lettland geboren, seit 1944 in der Kinderbaracke des KZs Majdanek, dann in Birkenau, schliesslich befreit, über Krakau in die Schweiz gelangt und beim Ehepaar Dössekker untergekommen. So stellt Wilkomirski die Geschichte 1995 im Buch «Bruchstücke» dar, das weltweit Aufsehen erregte und Anerkennung fand.

Spurensuche ohne Ergebnis

Die beiden Kinder seien identisch, behauptet erstmals 1998 der Schriftsteller Daniel Ganzfried in der «Weltwoche» und bezichtigt Wilkomirski der Erfindung einer spektakulären Holocaust-Biografie. Mächler bestätigt jetzt zweifelsfrei: Wilkomirski ist Grosjean. Wilkomirski dagegen hält an seiner «Wahrheit» fest. Mächlers Recherche ist nicht die erste; nach Ganzfrieds Enthüllungen hat etwa auch die Journalistin Elena Lappin Elemente des Falls aufgearbeitet und jüngst bei Chronos publiziert. Mächler hat aber nicht nur umfassend geforscht; er diskutiert auch ohne Häme die psychologischen Gründe und den Anteil der Medien und Leser am «Fall Wilkomirski». Seine Suche nach Fakten ergibt unter anderem: Der polnische Bauernhof, auf dem Wilkomirski nach der Flucht aus Riga gewesen sein will, gleicht auffällig jenem Bauernhof im bernischen Nidau, wo Bruno Grosjean zur Pflege war. Die angebliche Bekannte Laura aus dem Lager wurde in den USA als Erfinderin tragischer Biografien entlarvt. Das Kinderheim, das er in Krakau bewohnt haben will, gab es zu jener Zeit noch gar nicht. Oder: Die Einreise in die Schweiz 1945 mit einer leeren Namensetikette, wie sie der Autor schildert, ist nach den damaligen Gepflogenheiten völlig undenkbar, und es müssten sich schriftliche Spuren davon finden. Die aber gibt es nicht, ebenso wenig wie gesicherte Erinnerungen an einen Binjamin im KZ oder in Krakau. Und schliesslich: In die Enge getrieben, stellte sich Wilkomirski auf den Standpunkt, Binjamin und Bruno seien willentlich vertauscht worden; ihm, dem Judenkind, sei eine schweizerische Biografie aufoktroyiert worden. Für eine solche Vertauschung - Wilkomirski vergleicht sie mit jenen der «Kinder der Landstrasse» - findet Mächler jedoch nicht den geringsten Hinweis. Die Kindheit, die Wilkomirski erzählt, sei «voller Widersprüche» und «unvereinbar mit seiner biografischen Realität», bilanziert Mächler zum Abschluss seiner manchmal kriminalistischen Spurensuche. Wie aber kam Dössekker zu seiner Geschichte? Und wie kam es, dass ihm (fast) alle glaubten?

Die traumatisierte Kindheit

Ist Wilkomirski-Dössekker ein «kaltblütiger Betrüger», wie Ganzfried ihm vorwirft? Mächler legt eine andere Einschätzung nahe. Die Kleinkinderjahre des Bruno Grosjean müssen eine einzige Schreckenszeit gewesen sein. Er wurde seiner Mutter von den Adoptivbehörden entrissen, in Heimen und bei unfähigen Pflegeeltern regelrecht verstaut und schliesslich in die Zürichberg-Welt der Dössekkers verpflanzt - ein Musterfall behördlicher Ignoranz, der beim Kind ein «kumulatives Trauma» (Mächler) erzeugte. Unter den Folgen leidet Dössekker bis heute - «Bruchstücke» war sein Therapieversuch. Und dies im Wortsinn - denn den Aufzeichnungen war eine längere therapeutische Behandlung vorausgegangen. Mit deren Methode, in den USA «recovered memory» genannt, geht Mächler hart ins Gericht. Sie könne nicht die historische Wahrheit ans Tageslicht befördern, sondern liefere vielmehr eine Interpretation für bis dahin unverständliche, oft sprachlose Erinnerungsbilder. «Die Notwendigkeit, für einen namenlosen Horror Worte zu finden, öffnet ein Tor für Konfabulationen.» Für dieses Deutungsunternehmen hat sich Dössekker im Verein mit seiner Therapeutin «auf das Terrain der Shoah verirrt». Dies allerdings schon lange vor der Publikation von «Bruchstücke» - seit Mitte der Sechzigerjahre hatte er sich mit Judaica umgeben und die Geschichte der Shoah studiert. Der Holocaust als Selbstbedienungsladen? Genau dies macht den Fall über das individuell Verheerende hinaus bedeutsam: Mit dem Transfer vom privaten zum kollektiven Leiden, mit dem «Andocken» an das europäische Trauma der Shoah wurde seine Geschichte unanfechtbar und bot namentlich jüdischen KZ-Opfern, aber auch dem latent schlechten Gewissen der schweizerischen Öffentlichkeit willkommene Identifikationsmuster. «Wilkomirski, der in seiner Gesellschaft fremd war, wurde zum Juden, dem prototypischen Fremden der Moderne.»

Opfer - noch einmal?

Die Leserschaft fand, so Mächler, in Wilkomirskis Text, was dieser selber mit seiner eingebildeten KZ-Opferrolle gefunden hatte: ein Angebot, «fremdes Leid narzisstisch zu okkupieren und darin für eigene Mühsale Trost zu finden». Skepsis - es gab sie vereinzelt schon vor der Publikation 1995 - verbot sich jeder, der nicht riskieren wollte, den Holocaust-Leugnern Munition zu liefern. «Selbst wenn nur eine geringe Möglichkeit besteht, dass Wilkomirskis Geschichte wahr ist», schrieb etwa Lea Balint, Expertin auf dem Gebiet der Kinder-Überlebenden, «haben wir die moralische Verpflichtung, zu verhindern, dass er einen zweiten Holocaust erfährt.» Darauf beruft sich auch Dössekker immer wieder: Er werde noch einmal zum Opfer gemacht. Und darauf berief sich selbst jene amerikanische Institution, die Wilkomirski noch 1999 in Kenntnis der Zweifel einen Preis verlieh: Gerade bei Kinder-Überlebenden existierten meist nicht mehr als vage Erinnerungssplitter. Diese in Frage zu stellen, bedeute Komplizenschaft: «Nirgendwo sonst ist Hitlers Plan, keine Zeugen des Holocaust zu hinterlassen, seiner Realisierung näher gekommen als in der Abspaltung der Jüngsten von ihrer eigenen Erfahrung.» Es gibt also keine raschen Schlüsse aus dem Fall Wilkomirski. Wer wie Ganzfried fordert, den Betrüger zu bestrafen, betrügt sich selbst: Dass das Holocaust-Gedenken so entsetzlich wie entsetzlich missbrauchsanfällig ist, schafft man damit nicht aus der Welt.
Stefan Mächler: Der Fall Wilkomirski, Pendo Verlag Zürich 2000, Fr. 19.90. Elena Lappin: Der Mann mit zwei Köpfen, Chronos Zürich 2000, Fr. 29.-

Holocaust-Buch gefälscht
QU: Der Tagesspiegel vom 19. Juni 2000

Endgültig bewiesen - Biographie frei erfunden

Ein Schweizer Historiker hat jetzt eindeutige Beweise dafür gefunden, dass die bei ihrem Erscheinen weltweit gewürdigten Holocaust-Erinnerungen von Binjamin Wilkomirski ("Bruckstücke") gefälscht sind. Stefan Mächler hat die Kindheit des Autors - etwa durch Zeugenaussagen sowie Identifizierung von Fotos und Schauplätzen - lückenlos erforscht und kommt zu dem Schluss: "Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass Binjamin Wilkomirski mit Bruno Grosjean identisch ist und seine in 'Bruckstücke' niedergeschriebene Geschichte einzig und allein in seinem Denken und Empfinden stattgefunden hat."
Wilkomirskis Buch war 1995 im Suhrkamp-Verlag erschienen und hatte weltweit Betroffenheit ausgelöst. Darin schildert der Autor seine vermeintliche jüdische Kindheit im Konzentrationslager. Er sei später von einem Schweizer Ärzteehepaar adoptiert worden. Obwohl der Schweizer Daniel Ganzfried den Autor bereits 1998 als in Biel geborenen Sohn von Yvonne Grosjean enttarnte, bleibt dieser bis heute bei seiner Behauptung, Wilkomirski zu sein: "Ich bin nicht bereit, auf Druck von außen meine Erinnerungen zu leugnen."


Der Holocaust-Transvestit
QU: Weltwoche Ausgabe Nr. 25/00, 22.6.2000

Verantwortliche findet man keine in Mächlers Studie. Nur Traumatisierte und einen Traumatänzer im KZ-Gewand

Von Daniel Ganzfried

Am Anfang war das Trauma, müsste das Fazit lauten, liest man den Bericht Stefan Mächlers zum Fall Bruno Dössekker. Eine ausgezeichnete Recherche, mit einem vorzüglichen Anhang versehen, immer sachlich und nie die Loyalität vergessend gegenüber der ihn mit einem Honorar von 20000 Franken bezahlenden Agentur Liepman und dem Suhrkamp-Verlag, von dem der Historiker ursprünglich hoffte, dass er den Bericht herausgeben würde.

Kein Programm? Kein Wille?
Mächler liefert uns nebst vielem, meist schon länger Bekanntem vor allem eine lückenlose Schilderung der frühen Kinderjahre des Bruno Dössekker. Ein genuines Verdienst des ausgebildeten Historikers. Dabei lässt er auch die pränatale Phase nicht aus: In einer anrührigen Sozialreportage erzählt er den Hergang und die Folgen eines Fahrradunfalls der gerade schwanger gewordenen Mutter, die Umstände einer «schweren» Geburt, die «Klassenjustiz», welcher sich die arme Frau durch kaltherzige Behörden ausgesetzt gesehen habe, und so weiter.
Das Trauma, für Mächler eine fixe Arbeitshypothese, verleitet ihn dann zur eigentlichen Fehlleistung seines Berichts: Urteilende, handelnde, entscheidende, kurz: verantwortliche Menschen findet man nirgends. Nur einen Traumatänzer im KZ-Gewand.
Die Psychologisierung aller Vorgänge bringt den Historiker, der sich «seit längerem mit der Shoa befasst», so weit, dass er «natürlich weiss», dass das «Trauma auf individueller wie kollektiver Ebene den Kern jenes Jahrhundertverbrechens ausmacht». Also auch Himmler und Eichmann traumatisiert? Laut Mächler setzten die Nazis ihre «entsetzlichsten Phantasmagorien» in die Realität um. Kein Programm, kein Wille, keine Ideologie?


Mächler, der nicht Psychiater ist und sich nirgends auf ein fachliches Gutachten stützt, bietet uns auch Abhandlungen der eher abstrakten Art über literarische Pakte an, um plausibel zu machen, dass es wirklich für niemanden einen Weg gab, diese banale Fälschung zu unterbinden oder wenigstens nach dem Auffliegen sofort zu beenden.
Und so entschuldet Mächler alle wesentlich Beteiligten am Skandal um Bruno Dössekker und entschuldet auch dessen Holocaust-Travestie.

Schliesslich unter vielem noch dies zur Klarstellung:
1. Anders als Mächler behauptet, liegt von Karola, einer seiner Hauptzeuginnen, bei der «Weltwoche» kein Dementi ihrer telefonisch gemachten Aussage vor, dass sie Eva Koralnik (Agentur Liepman) noch vor Drucklegung über den fiktionalen Charakter der «Bruchstücke» unterrichtet habe. Weshalb hat Frau Koralnik, die zugibt, Karola zu kennen, diese nach den ersten Zweifeln 1995 nicht einfach in ihrem Domizil bei Paris angerufen, anstatt ins ferne Jerusalem zu Hobbyhistorikern und obskuren Therapeuten zu pilgern?
2. Weder Wilkomirski noch der Verlag oder die Agentur hätten irgendetwas um des Geldes willen getan? Mächler verschweigt, zu welchem Preis die zahlreichen Lizenzen verkauft wurden und wie viel dem Autor die Auszeichnungen und Lesehonorare einbrachten.
3. Anhaltspunkte über die Verant-wortung beziehungsweise Schuld der Hauptakteure erfordern wohl weitere Befragungen. Vielleicht ist Stefan Mächler am Schluss nur vorzuwerfen, dass er in Sachen Liepman, Suhrkamp und Konsorten nicht einfach in den ehrenhaften Ausstand getreten ist.

Sicher aber ist eines: Es gibt keine Gesetzmässigkeit, die aus den Spinnereien eines Mannes ein Buch macht. Es sei denn das Wollen.




 


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