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  Zeitgemässes über Terrorismus, Krieg und Tod
 

Von Priv.-Doz. Dr. Dipl.-Psych. Hans-Jürgen Wirth

Der vorliegende Text von Hans-Jürgen Wirth trägt den Titel "Zeitgemässes über Terrorismus, Krieg und Tod" und bietet grundsätzliche, interessante und wichtige Erklärungssansätze. Wir publizieren diesen Text, weil viele dieser grundsätzlichen Gedankengänge sich auch auf die von der AKdH behandelten Formen von Extremismus anwenden lassen.

Dieser Artikel ist als Schlusskapitel in dem Buch:"Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse psychischer Störungen in der Politik" von Hans-Jürgen Wirth erschienen, Giessen 2002, Psychosozial-Verlag, (www.psychosozial-verlag.de), 444 Seiten, 24,90 EUR.
Hans-Jürgen Wirth ist Psychologischer Psychotherapeut, arbeitet als Psychoanalytiker in eigener Praxis in Gießen und als Privat-Dozent an der Universität Bremen. Er ist Verleger des Psychosozial-Verlages.

Wir danken Herrn Hans-Jürgen Wirth für die freundliche Genehmigung zur Publikation.

"Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. [...] Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung."
Sigmund Freud (1930): Das Unbehagen in der Kultur. In: GW, Bd. XIV. S. 419-506.

"The fateful question for the human species seems to me to be whether and to what extent their cultural development will succeed in mastering the disturbance of their communal life by the human instinct of aggression and self-destruction. [...] Men habe gained control over thr forces of nature to such an extent that with their help they would have no difficulty in exterminating one another to the last man. They know this, and hence comes a large part of theitr current unrest, their unhappiness and their mood of anxiety."
Sigmund Freud (1930): Civilization and ist Discontents. In: The Standard Edition of thr Complete Psychological Work of Sigmund Freud, Vol 21, p 145.

"Der Narzißt muß ohne Unterlaß mit dem Göttlichen leben."
Bela Grunberger, Pierre Dessuan, (1997): Narzißmus, Christentum, Antisemitismus. Eine psychoanalytische Untersuchung. Stuttgart 2000 (Klett-Cotta), S. 379.

Der monströse Anschlag vom 11. September 2001 auf das World-Trade-Center in New York und das Pentagon in Washington hat - so könnte man mit Freud (1930) formulieren - der ganzen Welt wieder einmal vor Augen geführt, wie schwer es "der Menschenart" fällt, dem "menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden" (ebd., S. 506). Freuds Hypothese vom Aggressions-, Selbstvernichtungs- und/oder Todestrieb darf allerdings nicht verkürzt als monokausale Interpretation destruktiven Handelns verstanden werden, so als wäre der Terrorakt auf das World-Trade-Center mit dem Hinweis auf die aggressiv-destruktive Triebnatur des Menschen schon "auf den Begriff gebracht", erklärt oder verstanden.
Vielmehr besteht die theoretische Leistung von Freuds Todestrieb-Hypothese allein darin, darauf zu insistieren, dass die Möglichkeit zur Destruktivität in jedem von uns vorhanden ist. Der Terrorakt vom 11. September 2001 ist keineswegs von "unvorstellbarer" Grausamkeit, wie es in den Kommentaren oft hieß. Vielmehr haben sich zahlreiche kreative Köpfe aus Hollywoods Filmindustrie ein solches Szenario bereits vor Jahren in allen Einzelheiten ausgemalt, und ein Millionen-Publikum hat sich davon unterhalten, faszinieren und erschaudern lassen. Die destruktive Potenzial des Menschen ist ubiquitär: Grundsätzlich ist der Mensch zu jeder Grausamkeit fähig, die sich die menschliche Phantasie ausmalen kann. Wie weit der Einzelne von solchen destruktiven Impulsen bedrängt wird und ob destruktive Phantasien in die Tat umgesetzt werden oder im Reich der Phantasie bleiben, hängt allerdings von vielen weiteren, komplex miteinander verwobenen Bedingungen ab, die unter anderem mit den Begriffen maligner Narzissmus, Größenphantasien, Ohnmachtsgefühle, individuelle und kollektive Traumatisierungen, Fanatismus, Fundamentalismus und paranoide Weltbilder angesprochen sind.
Ereignisse wie der Terroranschlag vom 11. September 2001 sind auch nicht "bestialisch" im ursprünglichen Sinn des Wortes "Bestie" (= wildes Tier, Unmensch), sondern kennzeichnen im Gegenteil die Spezies Mensch. Tiere verfügen über eine instinktgesteuerte Tötungshemmung gegenüber Artgenossen - von wenigen Ausnahmen, die der Arterhaltung dienen, abgesehen. Tiere sind deshalb gar nicht in der Lage, unter ihren Artgenossen ein Massaker anzurichten. Dies bleibt dem Menschen vorbehalten. Die Möglichkeit zum monströsen Verbrechen stellt einen fundamentalen Bestandteil der Conditio humana dar. Die relative Freiheit von instinktgesteuertem Verhalten bringt auf der einen Seite die Möglichkeit zur Freiheit, zur Kreativität, zur freien Willensentscheidung hervor, während die andere Seite der Medaille in der Freiheit besteht, sich auch für das Böse entscheiden zu können. Wenn diese Freiheit zum Bösen nicht bestünde, wäre der Mensch nicht frei. Wir können das eine nicht haben, ohne das andere in Kauf zu nehmen. "Das Böse ist darum das Risiko und der Preis der Freiheit" (Safranski 1997, S. 193). Das bedeutet keine Kapitulation vor dem Bösen. Vielmehr steht der Mensch vor der schwierigen Aufgabe, dem Bösen entgegen zu arbeiten, ohne es jedoch je endgültig aus dem menschlichen Leben verbannen zu können, denn alle Versuche, dies zu tun, bringen unweigerlich selbst wieder Böses hervor, weil sie die Freiheit zerstören.
Freuds pessimistisches Menschenbild, das in seiner Todestriebhypothese zum Ausdruck kommt, verweist auf die Gefahr, dass auch die Opfer destruktiver Gewalt - am 11. September 2001 waren es die Amerikaner - nicht davor gefeit sind, mit ihrer Gegenwehr nun ihrerseits zu einer der "Mächte der Finsternis" (Freud) zu werden. Die Tragik besteht darin, dass der Kampf gegen das Böse selbst wieder Böses gebiert.
Die Spaltung der Welt in "gut" und "böse" gehört zu den zentralen psychologischen Bedingungen des Terrorismus. Die Terroristen können ihr Über-Ich nur ausschalten, indem sie ihren Gegner dehumanisieren und mit dem absolut Bösen gleichsetzen. Wenn umgekehrt der amerikanische Präsident George W. Bush zum "Kampf des Guten gegen das Böse", gar zu einem "Kreuzzug gegen das Böse", aufruft, dann folgt er der gleichen psychischen Spaltung, die zu den Ursachen des Problems gehört - nicht zu seiner Lösung. Denn "in reality" ["in Wirklichkeit"], so schrieb Freud (1915, S. 281f) in Thoghts for the Times on War and Death [Zeitgemäßes über Krieg und Tod],
"there is no such thing as ›eradicating‹ evil. Psychological - or, more strikly speaking, psycho-analytic - investigation shows instead that the deepest essence of human nature consists of instinctual impulses which are of the elementary nature, which are similar in all men and which aim at the satisfaction od certain primal needs. These impulses in themselves are neither good nor bad. [...]

["gibt es keine ›Ausrottung‹ des Bösen. Die psychologische - im strengen Sinne die psychoanalytische - Untersuchung zeigt vielmehr, daß das tiefste Wesen des Menschen in Triebregungen besteht, die elementarer Natur, bei allen Menschen gleichartig sind und auf Befriedigung gewisser ursprünglicher Bedürfnisse zielen. Diese Triebregungen sind an sich weder gut noch böse.] [...] A human being is seldom altogether good or bad; he is usually ›good‹ in one relation and ›bad‹ in another, or ›good‹ in certain external circumstances and in others decidesly ›bad‹."
[Der Mensch ist selten im ganzen gut oder böse, meist ›gut‹ in dieser Relation, ›böse‹ in einer anderen oder ›gut‹ unter solchen äußeren Bedingungen, unter anderen entschieden ›böse‹."]
Tatsächlich ist das Böse - gegenwärtig verkörpert im Terrorismus - eine Hydra: Schlägt man ihr einen Kopf ab, wachsen zehn neue Köpfe nach (vgl. Nitzschke 2001). Entsprechendes gilt auch für die Gegenwehr Amerikas. Greift die legitime und notwendige Gegenwehr selbst zu terroristischen Mitteln und erfolgt sie im Rahmen einer Kreuzzugs-Ideologie, dann wird sie sich selbst die Feinde stetig neu erschaffen, die sie zu bekämpfen vorgibt. Eine effektive Strategie gegen den Terrorismus muss auch an den schreienden Ungerechtigkeiten zwischen der Ersten, der Zweiten und der Dritten Welt anknüpfen und auch die psychosozialen Ursachen des Terrorismus bekämpfen, will sie langfristig erfolgreich sein.

Das Fanatismus-Syndrom
Terroristen, speziell Selbstmordattentäter, sind Fanatiker. Auch wenn der Fanatismus als individuelle und kollektive Erscheinung dem historischen Wandel unterliegt und ein überaus komplexes Phänomen ist (vgl. Hole 1995, S. 36), soll hier eine kurze Begriffsbestimmung versucht werden: Günter Hole (1995) hebt in seinem Buch Fanatismus die "Leidenschaftlichkeit und den "blinden Eifer" des Fanatikers hervor, mithilfe derer jener "kompromisslos" und "starr" seine "überwertige Idee" (ebd., S. 37) vertritt:
"Fanatismus ist eine durch die Persönlichkeitsstruktur mitbedingte, auf einengende Inhalte und Werte bezogene persönliche Überzeugung von hohem Identifizierungsgrad, die mit stärkster Intensität, Nachhaltigkeit und Konsequenz festgehalten oder verfolgt wird, wobei Dialog- und Kompromißunfähigkeit mit anderen Systemen und Menschen besteht, die als Außenfeinde auch unter Einsatz aller Mittel und in Konformität mit dem eigenen Gewissen bekämpft werden können" (ebd., S. 39).
Wurmser (1989, S. 167) hat - Haynal und Puymège zitierend - die Merkmale des Fanatismus wie folgt zusammengefasst:
"Glauben, ein Übermaß an Eifer, Exklusivität, automatische Reinheit, völlige, bis zum Selbstmord und Verbrechen getriebene Involvierung [in eine überwertige Ideologie], die Gewißheit, die Wahrheit zu besitzen, die ›Kenntnis‹ von gut und böse, die als absolut angesehen werden, ein dichotomisierendes und vereinheitlichendes Denken, eine Aversion gegen alles, was sich dieser Wahrheit entgegenstellt oder diese in Frage stellt, ein absoluter Glaube, der gewisse Ideale als heilig ansieht und Vervollkommnung und Harmonie im Diesseits oder Jenseits verspricht, die Vernichtung dessen, was fremd sei oder sich ihm widersetze."

Erich Fromm (1961, S. 61) betont ausdrücklich, man dürfe nicht jeden Menschen, der einen "tiefen Glauben" besitze oder sich einer "geistigen oder wissenschaftlichen Überzeugung" verpflichtet fühle, gleich als Fanatiker klassifizieren. Tatsächlich erkenne man den Fanatiker "leichter an gewissen Eigenschaften seiner Persönlichkeit als am Inhalt seiner Überzeugungen" (ebd.). Der Fanatiker habe alle Gefühle für andere Menschen in sich abgetötet und diese auf die Partei oder die Gruppe, deren Ideologie ihm nahe steht, projiziert. Er vergöttert das Kollektiv und die gemeinsame Ideologie, denen er sich selber als Sklave ausgeliefert hat. Die völlige Unterwerfung unter diesen Götzen lässt in ihm eine Leidenschaft entstehen, deren emotionale Qualität Fromm als "kaltes Feuer", als "brennendes Eis", als "Leidenschaftlichkeit, die ohne Wärme ist" (ebd.), charakterisiert. Der Fanatiker "handelt, denkt und fühlt im Namen seines Idols" (ebd.) und ist dafür bereit, alles, was ihm sonst noch im Leben wertvoll ist, zu opfern. Beispielsweise bekennt der Palästinenser Nizzar Iyan in einem Zeit-Interview (vgl. Schirra 2001), er sehe die höchste Erfüllung darin, dass seine Söhne sich als Selbstmordattentäter im Kampf gegen die Israelis opferten. Als sein 17-jähriger Sohn Ibrahim, den er "zum Töten abgerichtet hat, zum heiligen Killer im Namen Gottes" (ebd., S. 15) tatsächlich bei einem Selbstmord-Attentat ums Leben kommt, sagt der Vater: "Mein Sohn Ibrahim ist tot. Nie war ich glücklicher als in dem Moment, als sie kamen und mir sagten: ›Die Juden haben deinen Sohn getötet‹." Und auf die Frage des Interviewers: "Aber Sie sind doch sein Vater, es muss Ihnen doch wehtun", antwortet der Vater ungerührt: "Ich bin ganz ehrlich, ich sage das aus Überzeugung, ich empfinde keine Trauer, ich empfinde Freude, wirkliche Freude, dass das, was wir geglaubt haben, mein Sohn ein Stück weit realisiert hat. Das Leben hat keinen Geschmack, wenn man seine Träume, seine Ziele nicht realisieren kann" (ebd., S. 16).
Für diesen palästinensischen Vater gilt das, was Hole (1995) über den Fanatiker schreibt: Typische Fanatiker "lieben Ideen mehr als Menschen, die Hingabe an Ideen ist abnorm stark, die Hingabe an Menschen jedoch eigenartig blockiert oder gebrochen" (ebd., S. 93). Dem Fanatiker fehlt "die Fähigkeit zur Empathie", zur "Einfühlung", zur "Sympathie", die "prinzipiell Liebesfähigkeit, Offenheit, ein An-Sich-Heranlassen anderer Menschen" (ebd., S. 94) voraussetzt. Der Fanatiker hat seine innere Leere, Depression und Verzweiflung "in einer völligen Unterwerfung unter das Idol und in der gleichzeitigen Vergottung seines eigenen Ich ertränkt, das er zu einem Bestandteil des Idols gemacht hat" . [...] Theoretisch gesprochen ist der Fanatiker eine stark narzißtische Persönlichkeit" (Fromm 1961, S. 61).
Mit der Abtötung seiner Empathie, seiner mitmenschlichen Sympathie und seiner libidinösen Bindungen an seine nächsten Angehörigen hat der Fanatiker sich vor allem seiner eigenen Gefühle, die er als die bedrohlichste aller Gefahren fürchtet, entledigt. Der Fanatiker empfindet eine panische Angst vor allen Gefühlen, vor den "unangenehmen" Gefühlen der Reue, der Schuld, der Scham ebenso wie vor den "angenehmen" Gefühlen der Liebe, der Dankbarkeit, des Berührt- und des Gerührtseins, des Zusammengehörigkeitsgefühls. Es handelt sich um eine grundlegende Angst vor der eigenen emotionalen Innenwelt, vor der Tiefe des Gefühlslebens. Sich dieser Welt zu öffnen, bedeutet, sich eine Blöße geben, sich berührbar und damit verwundbar zu machen. Insbesondere ist die Liebe überaus gefährlich, da sie immer mit einer Art Selbstverlust, einer Selbstpreisgabe an den anderen, einer Selbsthingabe, einer Auflockerung der Ich-Grenzen, einem Aufgeben von Machtansprüchen und einer emotionalen Abhängigkeit vom geliebten Objekt einhergeht. "Der Fanatismus ist stets das Resultat der Unfähigkeit zu echter Bezogenheit" (ebd.). Die Abhängigkeit vom anderen und das Ausgeliefertsein an die Eigendynamik der Gefühle wird als die Gefahr schlechthin empfunden. Du sollst keine Gefühle zeigen! Du sollst keine Gefühle haben! Du darfst dich nicht berühren lassen! Du darfst dich keinen Liebesgefühlen hingeben! Du darfst einzig und allein auf die reine Lehre, deine eigene Macht und die Macht deines Führers und deiner Organisation bauen! Du darfst nur den Führer und die heilige Lehre lieben! - so könnte das Motto des Fanatikers lauten.
Diese These wird auch nicht durch die Tatsache widerlegt, dass einige der Terroristen in Deutschland als unauffällige Studenten lebten und zumindest der Terrorist Mohamed Atta eine Freundin hatte, die ihn bei der Polizei als vermisst meldete. Bezeichnend ist jedoch, dass er bereit war, seine Freundin ohne ein Wort des Abschieds zu verlassen und zu seiner tödlichen Mission aufzubrechen, von der er wusste, dass sie mit seinem eigenen Tod enden würde. Es kennzeichnet Fanatiker vom Schlage Attas, dass sie nicht nachempfinden können, "wie andere Menschen unter ihrem Verhalten und dessen Folgen leiden. Ungerührt ist es ihnen so möglich Leid und Schmerz zuzufügen oder in Kauf zu nehmen, ethisch gerechtfertigt und geboten durch die Beglückungsideologie des fanatischen Systems" (ebd., S. 94).
Am Tag der Anschläge auf das World-Trade-Center wurde am Bostoner Flughafen das nicht rechtzeitig umgeladene Gepäck des Terrorpiloten Muhamed Atta gefunden (vgl. Der Spiegel 40/2001, S. 32-33). Es enthielt u. a. das Testament des Selbstmordattentäters, ein psychologisch aufschlussreiches Dokument, das Attas innere Welt offenbart. Von den 18 Punkten seines Testaments beschäftigen sich allein drei mit seiner Angst vor der Unreinheit der Frauen:
"5. Weder schwangere Frauen noch unreine Personen sollen von mir Abschied nehmen - das lehne ich ab.
6. Frauen sollen nicht für meinen Tod Abbitte leisten. [...]
11. Frauen sollen weder bei der Beerdigung zugegen sein noch irgendwann später sich an meinem Grab einfinden" (ebd.).
Die Angst vor der Frau - speziell der emanzipierten, der selbstbewussten, der sexuell aktiven Frau - ist nicht nur ein individuelles Merkmal von Atta, sondern ein in der islamischen Welt weit verbreitetes Phänomen. Der Narzissmus der islamischen Männer erfuhr in der traditionell patriarchalisch orientierten Kultur des Islam eine enorme Aufblähung durch die Überhöhung der Männer und die Abwertung der Frauen. Unter dem Einfluss des Westens und seiner egalitären Orientierung fühlen sich viele männliche Muslime in ihrem Selbstwertgefühl gekränkt und suchen Halt im islamistischen Fundamentalismus, der ihnen Selbstbestätigung durch die Erhebung über die Frau und deren Erniedrigung verspricht, so wie dies im System der Taliban besonders drastisch deutlich wird. Lloyd (2002 a; 2002b) hat die These aufgestellt, dass die extreme soziale Isolation, Unterdrückung, Erniedrigung und körperliche Misshandlung der Frauen, die in vielen islamischen Ländern die gesellschaftliche Norm darstellt, als indirekte psychische Ursache des Terrorismus anzusehen ist. Die durch die Klitoris-Beschneidungen, Vergewaltigungen, Schläge und andere körperliche Misshandlungen traumatisierten Frauen geben ihr eigenes Trauma an ihre Kinder weiter. Sie leiden selbst unter Depressionen, selbstverletzendem Verhalten und anderen posttraumatischen Belastungsstörungen und fügen nun ihren Kindern - nicht nur, aber gerade auch den Jungen - die Erniedrigungen zu und versetzen sie in die panischen Ängste, unter denen sie selbst gelitten haben. Die auf diese Weise traumatisierten und mit (sexuellen) Ängsten befrachteten Jungen entwickeln ein von Verschmelzungsangst und Verschmelzungssehnsucht, von Verachtung und Hass geprägtes Frauenbild und flüchten - sobald sie alt genung sind - in die Welt der Männer, die von der der Frauen streng getrennt ist. Der Kreis schließet sich, wenn die Männer - um ihre eigene Identität zu stabilisieren - ihre Frauen entwerten und demütigen, so wie sie von ihren traumatisierten Müttern entwertet und gedemütigt worden sind. Aus Angst vor der als sadistisch phantasierten Frau (= Mutter) werden kleine Jungen häufig von erwachsenen Männern sexuell missbraucht, um den sexuellen Kontakt mit den gefürchteten und zugleich verachteten Frauen zu vermeiden (deMause 2002a, S. 42). Wie sich auch in der Biographie von Osama bin Laden zeigen lässt, wurden die sexuellen Freiheiten, die mit den Öl-Dollars und der westlichen Kultur in einige der arabischen Länder schwappten, von vielen fundamentalistischen Männern zunächst als grosse Versuchung begrüsst. In einem zweiten Schritt reagierten viele aber mit Schuldgefühlen und einer panischen Angst vor der Rache der verinnerlichten bösen Mutter-Imago. Die westliche Zivilisation wurde zum Repräsentanten für das eigene "böse Selbst" und musste mit allen Mitten bekämpft werden (vgl. ebd., S. 43). Es ist kein Zufall, dass in den Rechtfertigungen und Anschuldigungen der Terroristen die sexuellen Freizügigkeiten des Westens regelmäßig eine hervorragende Rolle spielen.
Die Angst vor der Verschmelzung mit der Frau und die "Entstehung des Panzers gegen die Frau" hat Klaus Theweleit (1977; 1978) eingehend für den Typus des "soldatischen Mannes" beschrieben. In seiner psychoanalytisch-psychohistorischen Analyse zeigt er auf, welche psychische und psychosomatische Funktion der militärische Kampf für das Ich und für den Körper des soldatischen Mannes hat: Einerseits führt der militärische Drill zur Erzeugung eines "stählernen Leibes", einer "Körpermaschine", einer Ernst Jünger'schen "Stahlgestalt" (Theweleit 1978, S. 185), andererseits wird "der Moment der Sprengung des Körperpanzers, des Verschwindens des starren Körper-Ichs [...] ja ersehnt" (ebd., S. 208):
"›Kaltes Metall‹ sein, keine Gefühle haben und doch zuckend in die Leiber einschlagen - Machtrausch, Grenzüberschreitung. [...] Mit allen Mitteln suchen die angreifenden soldatischen Männer den Übergang, den Ausbruch aus sich selbst. Am intensivsten ist die Erwartung der Sensation, wenn sie schließlich selbst die Bewegung der Kugel übernehmen und als Geschosse aus der Militärmaschine auf die gesuchten Leiber zurasen. Die Beschwörung der eigenen Geschwindigkeit, die nirgends fehlt, ist notwendig, um die Ausbrüche, die Durchbrüche, das Ankommen beim Körper des Feindes, das Einschlagen in diesen plausibel zu machen. [...] Der Durchbruch erfolgt nicht zu einem Zustand intensiver Lust, sondern zu einem Zustand intensiver Selbstbeobachtung. Vor allem dazu brauchen sie ihr ›eisklares‹ Hirn: daß ihm nicht entgeht, was am eigenen Leib geschieht. Und geschehen darf an diesem Leib nur etwas, wenn er tötet oder wenn er stirbt. Eiskaltes Denken - Wahrnehmung des eigenen Leibes in der Erwartung des Tötungsaktes oder des eigenen Todes. (Ich töte, also bin ich. Ich sterbe, also war ich.)" (ebd., S. 209-223).

Theweleits Ausführungen lassen sich auch lesen als mögliche Interpretation der psychischen Vorgänge, die sich bei den Terrorpiloten abgespielt haben könnten, allerdings mit der Einschränkung, dass wir über das, was diese Menschen während ihres Todesfluges empfunden haben, kaum etwas sicher wissen. Die Analogie mit Theweleits "soldatischen Männern" bleibt gleichwohl frappierend. Wie Hole (1995) schreibt, zeichnet sich der Fanatiker durch eine "Erstarrung und Rigidität im affektiven Bereich" (ebd., S. 93) aus, die durch "eine gestörte Beziehung zum eigenen Körper" - ja eine "ausgeprägte Körperfeindlichkeit" (ebd.) - ergänzt wird. Körperfeindlichkeit, Reinheitsideale, das Streben nach vollständiger Vergeistigung, die Entwertung der realen Existenz, die überwertige Idee vom Jenseits, der Wunsch, das eigene Leben vollständig einer illusionären Idee zu weihen und schließlich sogar zu opfern, bilden ein Syndrom, das Fanatismen aller Couleur eigen ist.
Auch in dieser Hinsicht weist Attas Testament Übereinstimmungen mit dem von Theweleit beschriebenen Typus des soldatischen Mannes auf: Der Reinheitskult der Nationalsozialisten, die die "Reinheit der arischen Rasse" und die "Reinheit des Blutes" auf ihre Fahnen schrieben, findet seine Entsprechung im Reinheitsideal der islamistischen Fanatiker. Atta schreibt unter Punkt neun seines Testaments:
"9. Derjenige, der meinen Körper rund um meine Genitalien wäscht, sollte Handschuhe tragen, damit ich dort nicht berührt werde" (Der Spiegel 40/2001, S. 32).
Und in dem Leitfaden für das Verhalten von Selbstmordattentätern "am Abend bevor du deine Tat verübst" (Der Spiegel 40/2001, S. 38), der ebenfalls in Attas Gepäck gefunden wurde, heißt es:
"Du sollst rezitieren, dass du für Gott stirbst. Rasiere das gesamte überflüssige Haar von deinem Körper, parfümiere deinen Körper und wasche deinen Körper. [...] Reinige dein Herz von allen schlechten Gefühlen, die du hast, und vergiss alles über dein weltliches Leben" (ebd., S. 38).
Die Angst vor dem Tod, die Angst vor der Ungeheuerlichkeit des geplanten Verbrechens wird auf die Angst vor dem eigenen Körper verschoben und dort durch Reinlichkeits-Rituale gebannt. Mit Hilfe der rituellen Handlungen wird nicht nur die gesamte Sphäre der Körperlichkeit, sondern auch das gesamte "weltliche Leben" entwirklicht. Mit der peniblen Reinigung des Körpers soll auch das "Herz von allen schlechten Gefühlen", d. h. von Liebesgefühlen, Mitleid, mitmenschlicher Sympathie, Schuldgefühlen, Gewissensängsten, Todesängsten, Schamgefühlen usw. gereinigt und die Monstrosität des geplanten Massenmordes derealisiert werden. Was schlechterdings unvorstellbar erscheint, wird durch die emotionale Derealisation und Entwirklichung zu einem minuziös planbaren Unternehmen.
Grunberger (1984) hat die Reinheit als ein narzisstisches Ideal beschrieben, das durch die Verleugnung von Triebhaftigkeit, ja die Aufhebung von Körperlichkeit schlechthin, den Zustand narzisstischer Vollkommenheit zu erlangen sucht. Grunberger definiert Reinheit als "an absolute and autonomous narcissistic ideal
ein "narzisstisches Ideal von Allmacht und absoluter Souveränität [...], aus dem die Triebdimension völlig ausgeschlossen wird" (ebd., S. 114). Reinheit ist "jedes fleischlichen Elementes entkleidet" (ebd., S. 116); sie ist "triebleer", gefühlsleer, sogar "materieleer" (ebd.). Indem der Fanatiker die Reinheit zum Ideal erhebt, entfernt er sich von der realen Welt, zu der immer auch der Schmutz, das Unreine, die Exkremente als Teil des Lebens gehören und weiht sein Dasein einer illusionären reinen Heiligkeit. Um sein Reinheitsideal zu verwirklichen, findet eine Projektion der "nicht in das Selbst integrierten Analität" (Grunberger, Dessuant 1997, S. 272) auf die als unrein phantasierten Außenfeinde statt. In Kriegen, speziell denen, die als "heilige Kriege" ("Dschihad") bezeichnet werden, sollen das absolut Schmutzige, das Böse, die Ungläubigen vernichtet und im Namen eines "Narzißmus der Reinheit" (ebd.) aus der Welt verbannt werden. Das "Doppelgespann Terror und Reinheit" (Grunberger 1984, S. 119) findet sich bei Robespierre ebenso wie bei den Christen der Kreuzzüge, in Hitlers Rassenlehre und seinem Antisemitismus und schließlich auch bei den islamistischen Fanatikern.
Konsequenterweise verfügte der Terrorist Atta unter Punkt drei seines Testamentes das Verbot, über seinen Tod zu trauern:
"Niemand soll meinetwegen weinen, schreien oder gar seine Kleider zerreißen und sein Gesicht schlagen - das sind törichte Gesten."
Das Trauerverbot gilt nicht nur für ihn selbst, sondern soll auch für alle anderen gelten. Es liegt hier eine Panzerung gegen die eigene Gefühlswelt vor und gegen die Gefühle anderer Menschen, sowohl gegen diejenigen, die ihm nahe stehen und erst recht gegen seine Opfer. Diese seelische Verfassung basiert auf einer kühlen Fassade der Unempfindlichkeit, der Ablehnung, des Hasses und der Verachtung durch die Errichtung der narzisstischen Gegenideale der Macht, der Kontrolle, der Reinheit, der Gefühllosigkeit (vgl. Wurmser 1989). Angebetet wird die Macht als ein Wert an sich. Der Terrorist unterwirft sich der absoluten Macht seiner Gemeinschaft und erlebt dadurch, dass die Terror-Organisation ihn für einen Selbstmord-Anschlag auswählt, eine narzisstische Gratifikation, eine ungeheure Erhöhung seines Grandiositätsgefühls. Das grandiose Selbst des Terroristen, der für die Aufgabe auserwählt wird, die Rolle des heiligen Kriegers zu übernehmen, erlebt dies wie eine Seligsprechung. Es kommt zu einer Verschmelzung von Ich und Ich-Ideal, zu einem Aufgehen des Selbst im grandiosen Selbst, das als unsterblich phantasiert wird, weshalb der eigene reale Tod nicht als Bedrohung, sondern sogar als Erlösung erlebt werden kann. Das mit Hass erfüllte Ressentiment gegen den Feind bildet das psychische Gerüst der paranoid-narzisstischen Charakter-Abwehr, die sich gegen humanitäre Ideale, gegen libidinöse Regungen, gegen Gefühle der Trauer und gegen die Wahrnehmung des Seelenlebens an sich richtet.
Selbstmord-Attentäter stellen sich zur Verfügung. Sie geben sich selber auf und werden zum willenlosen Instrument der Gruppe, für die sie kämpfen. Als solches sind sie sogar bereit, ihr eigenes Leben zu opfern. Gleichwohl sind sie nicht gewissenlos, sondern haben ein starres, übermächtiges, ein fanatisches Gewissen. Sie haben von sich die Auffassung, für eine gute und gerechte Sache zu kämpfen. Ihr Gewissen gibt ihnen den Auftrag, für ihren fanatischen Glauben zu sterben (vgl. Hilgers 2001a; 2001b).
"Den anderen mag die von einem solchen Ideal bestimmte Persönlichkeit ›gewissenlos‹ erscheinen. In Wirklichkeit handelt es sich aber um eine Art rücksichtsloser innerer Autorität, eine innere Henkerfigur, die ausschließlich nach dem Maßstab von Macht und Ohnmacht, Reinheit und Unreinheit, Willensbehauptung und Schwäche urteilt, und zwar das eigene Selbst wie alle anderen. Es ist ein grausames kategorisches Gewissen - ein anal-sadistisches, prä-ödipales Über-Ich -, in dem gleichsam die ganze Traumatisierung einer bösen Vergangenheit haust und weiterwirkt" (Wurmser 1989, S. 157f).
Aber vor allem werden Fanatiker von ihrem Ich-Ideal gesteuert. Ihr Ich-Ideal ist vollständig bestimmt von der fundamentalistischen Ideologie, der sie ihr Leben geweiht haben. So wähnen Islamisten im Gesetz des Koran das absolut Gute und im Lebensstil der westlichen Kultur das absolut Böse verkörpert, das es mit allen Mittels zu bekämpfen gilt. Ziel ist es, dem Feind möglichst viel Schaden zuzufügen und ihn symbolisch zu verletzten, zu beschädigen, zu erniedrigen. Gelingt dies, erfüllt sich das Ziel der Gruppe. Das eigene Ideal und das Gruppen-Ideal sind in diesem Moment in höchster Übereinstimmung. Und als Lohn für seine Selbstaufopferung winkt dem Attentäter, der sein eigenes Leben opfert, ein Platz im Jenseits.
"Es ist das Ideal vom Menschen, der völlig für die Macht lebt, von jemandem, der niemals von Gefühlen berührt werden kann, sich nie eine Schwäche gibt und sich aller anderen Menschen lediglich als Mittel zum Zweck seiner eigenen Machtbehauptung bedient, ein Mann der Kälte und der berufsmäßig ausgeübten Grausamkeit, der weder Treue noch Liebe zeigt. Es ist der Typus des Berufskriegers und Massenmörders. [...] In der psychoanalytischen Terminologie ist es ein rein narzißtisches Ideal - eine Idealgestalt, die eben sowohl der Liebe wie jeder anderen Form der ›Schwäche‹ diametral entgegengesetzt sein will" (Wurmser 1989, S. 157).
Der Fanatiker entwickelt ein narzisstisch übersteigertes Selbstbild, so als wollte er sagen: "Ich bin etwas ganz Besonderes, Ungewöhnliches, Einzigartiges. Ich bin eine Lichtgestalt, ein Erlöser. Ich bin mit einer unermesslichen Machtfülle ausgestattet. Die Menschen sollen mich nicht lieben, sondern bewundern oder noch besser mich fürchten. Ich gebe mir keine Blöße, ich zeige keinerlei Gefühl noch Schwäche. Deshalb bin ich auf niemanden angewiesen. Ich habe alles unter Kontrolle und vertraue auf nichts und niemanden außer auf die allein selig machende Idee, der ich mich mit Haut und Haaren verpflichtet habe. Auch wenn ich selbst ein Nichts bin, so bin ich doch Teil einer größeren, göttlichen Macht und kann mich somit auch grandios fühlen."
Kohut (1973, p 635) verweist darauf, dass
"human aggression is most dangerous when it is attached to the two great absolutarian constellations: the grandiose self and the archaic omnipotent object."
"die menschliche Aggression [...] dann am gefährlichsten [ist], wenn sie an die zwei großen absolutistischen psychologischen Konstellationen geknüpft ist: das grandiose Selbst und das archaische allmächtige Objekt." Wenn das grandiose Selbst in seinem Größenwahn und Fanatismus noch durch die Zustimmung eines archaischen allmächtigen Objektes abgesichert und unterstützt wird, geht jeder Selbstzweifel endgültig verloren. Deshalb begegnet man ...

"And the most gruesome human destructivness is encountered, not in the form of wild, regressive, and primitive behavior, but in the form of orderly organized activities in which the perpetrators' destructivness is alloyed with absolute conviction about their greatness and with their devotion to archaic omnipotent figures" (p 635).


... "der grauenhaftesten Zerstörungsgewalt des Menschen [...] nicht in der Form wilden regressiven und primitiven Verhaltens, sondern in Form ordnungsgemäßer organisierter Handlungen, bei denen die zerstörerische Aggression des Täters mit der absolutistischen Überzeugung von seiner Hingabe an archaische allmächtige Figuren verschmolzen ist" (ebd.).
Die narzisstische Wut zeichnet sich von anderen Formen der Aggression dadurch aus, dass bei ihr die Rachsucht, der unerbittliche innere Zwang, ein erlittenes Unrecht, das als narzisstische Kränkung und Scham erfahren wurde, eine hervorragende Rolle spielt. Es besteht ein "grenzenloser Wunsch nach Abrechnung mit dem Beleidiger" (ebd., S. 536f) und die Denkfunktion gerät "völlig unter die Herrschaft [...] des überwertigen Dranges" (ebd., S. 537).
In der islamischen Welt hat sich in den letzten Jahrzehnten das Gefühl aufgebaut, vom Westen, speziell von Amerika, erniedrigt und gedemütigt worden zu sein. Ursächliche Bedeutung hat die rücksichtslose Großmachtpolitik der USA, die sich gegenüber anderen Staaten als Hüter der Menschenrechte aufspielen, sich aber gleichwohl nicht scheuen, diktatorische Herrscher und korrupte Regime zu unterstützen, wenn es ihren eigenen Interessen dient. Gleichzeitig musste die islamische Welt erfahren, dass ihre Gesellschaften und ihre Kultur im Rahmen der Globalisierung nicht nur der ökonomisch-militärischen Übermacht der Amerikaner ausgeliefert sind, sondern noch viel mehr der wirtschaftlich-kulturellen Hegemonie des amerikanischen Way of life, der die überlieferten islamischen Traditionen und Wertvorstellungen untergräbt. Für die Islamisten stellt der Fundamentalismus ein ideologisches Bollwerk gegen die kulturellen Einflüsse der weltweiten Amerikanisierung dar. Er richtet sich gegen den Westen, aber auch gegen die pro-westlichen Gruppen und Regierungen in den islamischen Ländern selbst.
Bei den Gruppierungen innerhalb der islamischen Welt, die diese narzisstische Kränkung besonders intensiv erleben, haben die Demütigungen eine kollektive narzisstische Wut entfacht, die in ihrer extremen Ausprägung sogar eine Form annehmen kann, die Hans Magnus Enzensberger (in der FAZ vom 18. 9. 2001) als "Stolz auf den eigenen Untergang" bezeichnet hat. Wie Altmeyer (2001, S. 13) betont, hat Enzensberger damit auf die narzisstischen Wurzeln dieser mörderischen und selbstmörderischen Destruktivität verwiesen:
"Vor der Selbstvernichtung steht die expansive Vorstellung von der eigenen Größe: Die Welt soll endlich anerkennen, wie großartig die eigene Ideologie, die eigene Religion, die eigene Kultur, die eigene Rasse sind, wie grandios das individuelle oder Kollektivselbst ist - wehe, wenn sie das nicht tut. Und sie soll die narzisstisch aufgeblähte Grandiosität umso dringender würdigen, je mehr eigene Zweifel daran sich bereits gebildet haben. [...] Aus dieser verhängnisvollen Mischung aus Selbstzweifel, Kränkung und kompensatorischem Größenwahn ergibt sich nicht bloß die obsessive Vision vom Gottesstaat. Sie speist auch jene fatale Entwicklung, die in den mörderischen und selbstmörderischen Terrorismus führt. Es ist so etwas wie eine in gigantische Dimensionen gesteigerte kollektive narzisstische Wut, die wir in den terroristischen Manifestationen des Bösen erleben."
Menschen, deren gesamtes Leben durch den Einfluss von Gewalt und Hass geprägt wurde, neigen zu der Annahme, dass die gesamte Welt nach dem Muster der Opfer-Täter-Beziehung strukturiert ist und dass es daher vorteilhafter sei, lieber ein Täter als ein Opfer zu sein. Wie aus den Biographien von Kriminellen, die wegen Gewaltverbrechen verurteilt wurden, bekannt ist, waren diese in ihrer Kindheit und Jugend häufig selbst Opfer von körperlichen Misshandlungen und sexuellem Missbrauch. Wir wissen einiges über die Selbstmordattentäter unter den Palästinensern. Vor allem die Jugendlichen, die sich für die Selbstmordattentate zur Verfügung stellen, sind von Kindesbeinen an einer permanenten Traumatisierung ausgesetzt. Sie erfahren ihr ganzes Leben lang extreme Formen von Gewalt, Ohnmacht, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Das hat sie abstumpfen lassen. Da nicht nur viele Einzelne traumatisiert sind, sondern die kollektive Identität der Gruppe eine kollektive Traumatisierung erfahren hat, verfällt nicht nur der Einzelne dem Fanatismus, sondern der Fanatismus prägt auch die kollektive Identitätsentwicklung der kulturellen Großgruppe. Wenn die späteren Fanatiker nicht schon als Kinder in die terroristische Sekte aufgenommen wurden, bildet die Phase der Adoleszenz besonders gute Voraussetzungen, um eine solche terroristische "Karriere" (Bittner 2001, S. 59) zu beginnen, da der Jugendliche sich aus den familiären Bindungen lösen muss und bei seiner Suche nach neuen kulturellen Idealen und Werten besonders empfänglich ist für die Orientierungsangebote, die ihm radikalisierte Gruppierungen machen. Die virtuelle Biographie eines Fanatikers, den die Großgruppe als ihren mythischen Helden feiert, dient den Adoleszenten als identitätsstiftende Musterbiographie, die ihnen bei der Orientierung behilflich ist. Zugleich gelingt es ihnen durch die Identifikation mit solchen kulturell vorgegebenen Heldengestalten, den notwendigen Anschluss ihrer persönlichen an die soziale und kulturelle Identität zu vollziehen.
Ihnen wird eine Gruppenidentität vermittelt, die den Fanatismus zu einem zentralen Element macht. Dass sie selbst, ihre Familien und ihre Leidensgenossen unablässig Opfer und Zeugen von Gewalt werden, können sie nicht verhindern. Aber sie können die Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit abwehren durch Gegengewalt, durch Fanatismus und durch den festen Glauben an ein ewiges Leben im Jenseits und an den narzisstischen Ruhm, sich für das Kollektiv geopfert zu haben. Der Fanatismus erscheint ihnen in dieser Situation als letzter Rettungsanker. Wie armselig, elend und aussichtslos das eigene Leben auch immer sein mag, die unbedingte Identifikation mit den Idealen der Gruppe entschädigt den Einzelnen für seine Schmach. Der "Gruppennarzißmus" (Fromm 1964, S. 199-223; 1973, S. 179-184) stellt eine wichtige Stütze für das Selbstwertgefühl des Individuums dar und kann im Falle kollektiver Kränkungen zur Quelle von Aggression und Fanatismus werden.
Einige der heutigen islamistischen Terroristen und Al Qaida-Kämpfer sind möglicherweise bereits als Kinder in Flüchtlingslagern traumatisiert und dort von verschiedenen Geheimdiensten rekrutiert und in speziellen Koranschulen und Ausbildungscamps großgezogen und ausgebildet worden. Andere werden erst als Jugendliche "zwischen 18 und 28 Jahren, ledig, keine Kinder, ohne familiäre Verpflichtungen" (Hirschmann 2001, S. 12) von den Terror-Organisationen angeworben und in Ausbildungscamps geschult und indoktriniert. "Es ist ein offenes Geheimnis", dass es sogar "in Gaza und im Westjordenland Orte gibt, an denen junge Palästinenser von Lehrern in der Disziplin des Selbstmordattentats unterrichtet werden" (Schirra 2001, S. 15). In der klösterlichen Abgeschiedenheit solcher Camps bietet sich die Gemeinschaft als Familienersatz und ihre fanatischen Führer als Eltern-Ersatz-Figuren an, sodass die Kinder und Jugendlichen eine intensive emotionale und intellektuelle Abhängigkeit entwickeln, die sie empfänglich macht für den Fanatismus. Diese Kindersoldaten werden mit einer fundamentalistisch reduzierten Form des Islam geimpft und auf ihre Mission programmiert. Mithilfe methodischer Indoktrination werden Fanatiker herangezogen, die Teil einer Sekte sind, aus der sie weder aussteigen wollen noch können (vgl. Lachkar 2002). Auf der einen Seite wirkt die Ehre, für die heilige Mission des Opfertodes auserwählt zu sein, als eine ungeheure narzisstische Gratifikation, auf der anderen Seite droht jedem Aspiranten, den Zweifel und Ängste befallen, die Schmach und Verachtung der Gruppe und des Führers - oder Schlimmeres. Alle der meist jugendlichen palästinensischen Selbstmordattentäter ("Schahid"), die sich selbst in die Luft gesprengt haben, werden verehrt als "Gefallene Gottes" (ebd., S. 16). "Das palästinensische Fernsehen sendet Werbespots, über ›unsere toten Helden‹, und die Zeitungen bejubeln den ›Befreiungskampf für Palästina‹. Die Bilder der Toten, blutrot, beinahe kitschig, sie werden zusammengefügt zu einer Galerie des Todes" (ebd.). Während dem heiligen Krieger, der sein Leben für die Sekten-Ideologie opfert, versprochen wird, er komme sofort in den Himmel, werden Verräter mit dem unehrenhaften Tod bedroht. Im Laufe des Rekrutierungsprozesses werden die künftigen Selbstmord-Attentäter systematisch extremen psychischen und körperlichen Belastungen ausgesetzt, die an Methoden der Gehirnwäsche, der Folter und der "künstlichen" Traumatisierung erinnern. So berichtet der Palästinenser Eyad Saradsch, der in Gaza ein psychiatrisches Zentrum leitet, die Kandidaten "müssten tagelang schweigend und völlig isoliert in einem Raum sitzen oder 48 Stunden unter der Erde, in einem Grab, neben einer Leiche verbringen" (zit. n. Luczak 2001, S. 89). Unter solchen Extrembelastungen kommt es zu einer Retraumatisierung, die mit intensiven Gefühlen der Angst, der Scham, der narzisstischen Entwertung, der Hilflosigkeit und Ohnmacht verbunden ist. Als Ausweg bietet sich nun die vorbehaltlose Identifikation mit der Gruppe, dem Führer und der Gruppen-Ideologie an. Ergebnis ist ein fanatischer Anhänger, ein heiliger Krieger, der alles "Gute" ausschließlich in der Sekten-Ideologie finden kann und alles "Böse" und Hassenswerte auf den Feind abgespalten hat.
Diese Dynamik gilt besonders für die Menschen, die bereits seit mehreren Generationen unter erbärmlichen Umständen in Flüchtlingslagern leben und durch die tagtägliche Präsenz von Gewalt traumatisiert sind. Doch die Attentäter von New York und Washington waren keine Palästinenser, sondern gut ausgebildete Studenten, u. a. aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Osama bin Laden stammt aus Saudi Arabien, einem der reichsten Länder der Welt.
Wie Kernberg (2002) ausdrücklich betont, wirkt nicht nur die Gewalt, die man am eigenen Leibe erlebt, traumatisierend, sondern auch die Gewaltakte, deren Zeuge man wird. Wird jemand gezwungen, hilf- und tatenlos zuzuschauen, wie einem anderen nahe stehenden Menschen Gewalt, Unrecht und Erniedrigung angetan wird, so kann dies ebenfalls als Trauma erfahren werden. Solche Formen des Terrors wurden beispielsweise während der ethnischen Säuberungsaktionen der Serben im Kosovo bekannt, wenn Männer zusehen mussten, wie ihre Frauen vor ihren Augen vergewaltigt wurden oder Frauen gezwungen wurden zuzuschauen, wie ihre Männer ermordet wurden. Analoge Prozesse spielen sich seit Jahrzehnten im nahen Osten in Bezug auf die Palästinenser ab. Die Araber und die Muslime in den arabischen Ländern fühlen sich durch ihre kollektive Identität mit dem Leiden des palästinensischen Volkes verbunden. Sie sympathisieren (= mitleiden) mit den Palästinensern und haben einen kollektiven Hass auf Israel und Amerika und z. T. auch auf die westliche Welt insgesamt entwickelt. Aufgrund ihrer ausgeprägten kollektiven Identität empfinden sich viele Muslime "als Gesamtheit traumatisiert - selbst wenn sie aus gutbürgerlichen Kreisen des relativ gemäßigten Ägypten stammen, wie Muhamed Atta" (Luczak 2001, S. 86). Einzelne Individuen können gerade aufgrund ihrer privilegierten Stellung eine besonders intensive Verpflichtung empfinden, die Palästinenser in ihrem Kampf gegen Israel und seinen großen Beschützer Amerika zu unterstützen. Es ist sogar denkbar, dass die terroristische Laufbahn im Einzelfall mit einem echten menschlichen Verantwortungs- und Verbundenheitsgefühl beginnt und sich erst im Laufe der Jahre zu einem fanatischen Hass entwickelt. Auch die deutschen Terroristen der Rote Armee Fraktio (RAF), die in den siebziger Jahren in Deutschland mit Terroanschlägen auf symbolische Repräsemtanten des Staates und des kapitalistischen Wirtschaftssystems ausübten, waren hoch moralische motivierte Menschen, die sich vor ihren gewalttätigen Aktionen in verschiedenen Projekten sozial engagierten. Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe (vgl. Wirth 2001; 2002) ausgeführt habe, waren die RAF-Terroristen "unbewusste Delegierte" (Stierlin 1978) ihrer Eltern und der Eltern-Generation. In gewisser Weise handelten sie nicht aus freien Stücken, sondern im unbewussten Auftrag der Eltern, sie waren eingebunden in einen transgenerationalen Konflikt. Sie holten - allerdings am falschen Objekt und zur falschen Zeit - den Widerstand gegen ein Terror-Regime nach, den die Elterngeneration in der Zeit des Nationalsozialismus versäumt hatte.
Die islamischen Terroristen, die in den heiligen Krieg ziehen, sind häufig in einen ähnlichen Generationszusammenhang eingebunden, der darin besteht, dass die privilegierten und wohlhabenden arabischen Familien einerseits in einem kaum vorstellbaren Öl-Reichtum leben und den Luxus der westlichen Industriegesellschaft genießen, andererseits aber ideologisch den Hass auf den Westen und die Solidarität mit dem palästinensischen Volk vertreten. Diese Doppel-Moral stellt einen schwerwiegenden Konflikt in der Auseinandersetzung zwischen den Generationen dar, der so aufgelöst wird, dass die Söhne aus wirtschaftlich privilegierten Familien teils im bewussten, teils im unbewussten Auftrag der Väter in den heiligen Krieg ziehen, von dem die Väter nur reden und träumen. Tatsächlich sind nach dem 11. September viele Hinweise bekannt geworden, dass die Terrorgruppen, "Dschihadisten", d. h. "religiös argumentierende Berufsfanatiker" ( Hirschmann 2001, S. 14) von zahlreichen islamischen Geschäftsleuten finanziell unterstützt werden, die in Europa und in Amerika erfolgreich ihren Geschäften nachgehen und die sich durch diese Spenden ein reines islamisches Gewissen verschaffen. Auch und gerade in Saudi Arabien unterstützt die herrschende königliche Groß-Familie zahlreiche islamistische Terror-Organisationen mit erheblichen finanziellen Mitteln, um sich auf diese Weise teils moralisch, teils politisch frei zu kaufen.

Der 11. September 2001 als kollektives Trauma
Neben der Psychologie der Terroristen ist auch die psychische Situation der Amerikaner, die am 11. September einer kollektiven Traumatisierung ausgesetzt waren, von weit reichender weltpolitischer Bedeutung. Ein Trauma ist ein Erlebnis, das von solcher Intensität ist, dass es die seelischen Verarbeitungsmöglichkeiten überschreitet. Mit dem Trauma gehen Gefühle von extremer Angst, häufig Todesangst, Schrecken, Ohnmacht und totaler Hilflosigkeit einher. Dies führt zu einem Zusammenbruch zentraler Ich-Funktionen und zu einer basalen Erschütterung der gesamten Persönlichkeit. Wenn dies gleichzeitig einer großen Gruppe von Menschen widerfährt, spricht man von einem kollektiven Trauma. Ohne Zweifel stellt die Zerstörung des World-Trade-Centers in New York und die teilweise Zerstörung des Pentagons eine kollektive Traumatisierung der amerikanischen Nation dar, die das kollektive Identitätsgefühl der Amerikaner und ihren Gruppennarzissmus zutiefst erschüttert hat. Dies betrifft nicht nur die Menschen, die Angehörige, Freunde und Bekannte verloren haben, sondern das Kollektiv in seiner Gesamtheit.
Die Weltmacht Amerika wurde durch den terroristischen Angriff auf ihre Metropole und auf das Symbol ihrer wirtschaftlichen und technischen Überlegenheit mit der Erfahrung der Verwundbarkeit, der Endlichkeit des Lebens, der Hilflosigkeit angesichts des "Bösen" konfrontiert. Was so gar nicht ins Weltbild und ins Selbstverständnis Amerikas passt, wurde zur erschreckenden aber unabweisbaren Realität: Auch die Supermacht Amerika ist verletzbar. Weder die mit modernsten Computern ausgerüsteten Geheimdienste FBI und CIA noch die atomaren Waffen konnten Amerika vor diesem Angriff schützen - vom atomaren Schutzschild ganz zu schweigen. Sollte den Amerikanern eine kollektive psychische Verarbeitung des erlittenen Traumas nicht gelingen, besteht die Gefahr, dass sich ein post-traumatisches Belastungs-Syndrom entwickelt, das sich als ständiges Wiedererleben des traumatischen Ereignisses, als gedankliche Fixierung auf das Trauma, als unkontrollierte Panikattacken und als ebenso heftige und abrupte Aggressions-Ausbrüche gegen andere ausdrücken könnte. Die amerikanische Gesellschaft könnte in die Versuchung geraten, das erlittene kollektive Trauma dadurch abzuwehren, dass sie sich auf das Trauma fixiert und es zum zentralen Bezugspunkt der nationalen Identität macht. Als "gewähltes Trauma" (Volkan 1999) wäre es laufend präsent und würde eine ständige Rechtfertigung für die eigenen paranoid-aggressiven Haltungen liefern. Amerika wäre genötigt, unablässig den Beweis seiner militärischen Überlegenheit anzutreten, indem es - mehr oder weniger wahllos - Feinde definiert, aufspürt, verfolgt und vernichtet. Schließlich käme es zur Ausbildung einer nationalistischen Ideologie, die Verfolgungs-, Rache- und Größenphantasien zum Inhalt hat. Diese haben die Funktion, die erlittenen narzisstischen Verletzungen des Selbstwertgefühls wiedergutmachen und die Demütigungen durch Rache auszugleichen. Beauftragt die Gesellschaft einen Führer damit, einen Rachefeldzug zu organisieren, so genießt derjenige Politiker das größte Ansehen, der am fanatischsten die paranoide Ideologie vertritt und am heftigsten verspricht, dass er Rache als ausgleichende Gerechtigkeit üben werde, um das erschütterte grandiose Selbstbild wieder zu festigen.
Solche psychodynamischen Zusammenhänge hatte wohl auch Arundhati Roy, eine der angesehensten und erfolgreichsten Schriftstellerin Indiens, im Auge, als sie in ihrem Kommentar Terrorismus ist ein Symptom, nicht die Krankheit Osama bin Laden und George W. Bush miteinander verglich. Ihr Artikel erregte weltweit Aufsehen - in den westlichen Ländern meist Empörung - und führte in Deutschland beinahe zum Rücktritt des bekannten und beliebten TV-Moderators Ulrich Wickert, weil dieser die Gedanken von Roy in einem Zeitschriften-Beitrag zustimmend zitiert hatte.
Zunächst ist interessant, dass Roy (2001) zu einer psychologisch-medizinischen Metapher greift, wenn sie "Symptom" und "Krankheit" unterscheidet. Und dann argumentiert sie sogar explizit "familiendynamisch":
"Was ist Osama bin Laden? Er ist das amerikanische Familiengeheimnis. Er ist der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten. Der brutale Zwilling alles angeblich Schönen und Zivilisierten. Er ist aus der Rippe einer Welt gemacht, die durch die amerikanische Außenpolitik verwüstet wurde, durch ihre Kanonenboot-Diplomatie, ihr Atomwaffenarsenal, ihre unbekümmerte Politik der unumschränkten Vorherrschaft. [...] Nun, da das Familiengeheimnis gelüftet ist, werden die Zwillinge allmählich eins und sogar austauschbar. [...] Inzwischen werden sich die beiden auch in der Sprache immer ähnlicher. Jeder bezeichnet den anderen als ›Kopf einer Schlange‹. Beide berufen sich auf Gott und greifen gern auf die Erlösungsrhetorik von Gut und Böse zurück."
Der deutsche Journalist Henryk M. Broder hat im Spiegel (38/2001) vom 15. 9. 2001, also nur vier Tage nach dem 11. September und noch vor der Veröffentlichung von Roys Artikel, eine polemische Attacke gegen eine Argumentation publiziert, die er als "Verharmlosung des islamischen Terrorismus" und der "Lust am Morden" ansieht. Seine Ausführungen lesen sich wie eine vorweggenommene Kritik an Roy. Broder meint, viele "europäische Intellektuelle" (ebd., S. 169) neigten dazu, den "Terror schönzureden". Dies sei Ausdruck einer "post-liberalen und pre-suizidalen Haltung" (ebd.):
"Wir Abendländer haben keine Probleme, den Fanatismus von Christen und Juden zu verdammen, nur bei fanatischen Moslems neigen wir zu einer Haltung, wie man sie normalerweise gegenüber kleinen Kindern und erwachsenen Autisten annimmt: Sie wissen nicht was sie tun, aber sie meinen es irgendwie gut" (ebd.).
Broder ist offenbar der Ansicht, es sei nicht notwendig und auch nicht statthaft, sich in die Psyche der Attentäter einzufühlen oder gar nach handgreiflichen Ursachen, Motiven und Hintergründen des Terrorismus zu suchen:
"Samuel Huntington hatte Recht, es findet ein Kampf der Kulturen statt. Es geht nicht um globale Gerechtigkeit, nicht um die legitimen Rechte der Palästinenser oder eines anderen unterdrückten Volkes, es geht um die reine Lust am Morden, die inzwischen nicht einmal einen Vorwand braucht" (ebd.).
Abgesehen davon, dass die "Lust am Morden" auch ein psychologisches Motiv darstellt - das, psychoanalytisch gesprochen, einem triebpsychologischen Persönlichkeitsmodell entstammt -, kann man Broder entgegenhalten, dass er die Bemühung um psychologisches Verständnis für die seelische Verfassung der Täter allzu kurzschlüssig mit einer heimlichen Sympathie für ihre Taten gleichsetzt.
Doch auch Roy scheint sich nicht über alle Implikationen ihrer beziehungsdynamischen Argumentation im Klaren zu sein. Wenn man im Rahmen der von Roy benutzten familiendynamischen Metapher bleibt, kann man gegen ihre Argumentation einwenden, dass manche Symptome und manche Symptomträger so gefährlich sind, dass man sie mit radikalen Methoden bekämpfen muss. Eine beziehungs- und familiendynamische Betrachtungsweise schließt freiheitseinschränkende Behandlungsmethoden nicht notwendig aus. Selbst wenn man familiendynamisch herleiten kann, warum ein jugendlicher Mörder zum Mörder wurde - und infolge der beziehungsdynamischen Logik gewissermaßen werden "musste" -, schließt dies nicht aus, dass er es ist, der als Täter zur Verantwortung gezogen und hinter Schloss und Riegel gebracht werden muss und nicht seine Eltern, auch wenn deren unbewusste Konflikte maßgeblich dazu beigetragen haben, dass aus ihm ein Mörder wurde. Zudem zielt ein großer Teil der Medizin und auch der Psychotherapie primär auf die Symptome und erst in zweiter Linie auf die Prävention zukünftiger Erkrankungen. Speziell bei lebensbedrohlichen Symptomen konzentriert der Arzt und Therapeut all seine Kräfte zunächst auf deren Behandlung, Begrenzung und Bekämpfung, und erst wenn er diese eingedämmt hat, richtet er seine Aufmerksamkeit auf präventive Maßnahmen. So kann auch eine familiendynamische Betrachtungsweise durchaus dazu führen, dass man einzelne Familienmitglieder mit unterschiedlichen Methoden und in unterschiedlichen Settings getrennt behandelt. Häufig ist bei besonders schweren Familienpathologien zunächst eine stationäre Behandlung eines einzelnen Familienmitgliedes - etwa einer magersüchtigen Tochter - induziert und erst wenn eine gewisse Beruhigung der innerfamiliären Konflikte eingetreten ist, kann als Ursachen-Behandlung und Prävention ein im engeren Sinne familientherapeutischer Dialog beginnen.
Wie also soll man mit Fanatikern und Terroristen um-, wie gegen sie vorgehen?
Einzelne Terroristen und Terroristen-Gruppen kann man militärisch aufspüren und vernichten. Doch ist der Terrorismus primär eine "kommunikative Strategie" (Waldmann 1998, S. 13), deren Ziel die "Provokation der Macht" (ebd.) ist. Terrorismus ist die Macht der Ohnmächtigen. Terroristen sind Fanatiker, die zwar selbst eine kommunikative Strategie im Umgang mit ihren Gegnern und mit der Öffentlichkeit verfolgen, und im Fall des 11. September "die ganze Welt als Resonanzraum" (Waldmann 2001, S. 4) benutzten, die sich selbst jedoch nicht oder nur höchst begrenzt kommunikativ beeinflussen lassen. Ihr Fanatismus und ihre paranoide "Festungsmentalität" schirmt sie ab gegen Versuche der Einflussnahme. So wie sich die "paranoide Festungsfamilie" in familientherapeutischen behandlungen häufig als "therapieresistent" (Richter 1970, S. 224) erweist, so stoßen diplomatische Initiativen bei fanatischen und paranoiden, politischen und religiösen Gruppen meist an unüberwindbare Grenzen. Mit Fanatikern kann man nicht oder nur höchst begrenzt verhandeln. Wenn man sie bekämpft, steigert das ihre narzisstische Wut ebenso, wie wenn man ihnen entgegenkommt oder versucht, ihre Positionen in Verhandlungen aufzuweichen. Ihre Unfähigkeit zum Kompromiss macht sie politikunfähig.
Im Kontakt mit Terroristen gilt es vor allem, die "Gegenübertragungsfallen" (Kernberg 1975) zu vermeiden. Man darf sich weder verleiten lassen, rachsüchtig und wutentbrannt zu reagieren, noch darf man die Bösartigkeit der Terroristen unterschätzen. Auf keinen Fall sollte man sich die Logik des eigenen Handelns von den Terroristen aufzwingen lassen, indem man unbewusst ihr paranoides Weltbild übernimmt und ihr aggressiv-ressentimentgeladenes Interaktionsmuster mitagiert. Auch müssen sich die Opfer der Gewalt davor hüten, sich mit dem Angreifer zu identifizieren. Nehmen die Amerikaner eine solche Identifikation mit dem Aggressor vor, gleichen sie sich dem Fanatismus der Terroristen an und werden ebenfalls partiell zu fanatischen Hassern, die ohne Rücksicht auf Verluste in einen Kampf gegen das Böse ziehen. Auch der amerikanischen Regierung könnte es passieren, dass sie sich in dieser Weise mit den Terroristen identifiziert und auf der gleichen Ebene mit den gleichen Mitteln zurückschlägt. Die militärischen Maßnahmen würden dann im Grunde nicht mehr einer militärischen Logik folgen, sondern die Funktion einer psychischen Stabilisierung übernehmen. Es würde zurückgeschlagen, nicht weil es den "richtigen" Gegner treffen, sondern weil das narzisstische Gefühl der Unverwundbarkeit wieder hergestellt werden soll. Die sachlich-militärische Funktion der militärischen Maßnahmen träte hinter der psychologischen Bedeutung, die narzisstische Kränkung auszugleichen, zurück.
Welche Antwort Amerika auf den Terrorismus findet, hängt davon ab, wie die Amerikaner mit dem erlittenen Trauma umgehen. George W. Bush nahm die Nachricht von der Katastrophe mit unbewegter Miene auf und ließ keinerlei Irritation erkennen, ganz im Unterschied zu Bill Clinton, der in einem Fernsehinterview direkt nach den Angriffen regelrecht erschüttert wirkte. Die totale Abspaltung bzw. Unterdrückung der spontanen Gefühle ist nun gerade kein Kennzeichen einer gelingenden Trauma-Verarbeitung. Im Gegenteil: Soll ein Trauma überwunden werden, ist es notwendig, dass die Phase der Depression und Trauer durchlebt wird. Sie muss zugelassen, sie darf nicht untergedrückt werden. Die Amerikaner müssen versuchen, die Geschehnisse psychisch zu integrieren. Es wird ein längerer Prozess der Verarbeitung notwendig sein, der Amerika - aber auch die Weltöffentlichkeit - Wochen, Monate, wahrscheinlich Jahre beschäftigen wird. Es muss - auch öffentlich - über die Trauer, Verzweiflung, Wut und diffuse Ohnmacht gesprochen werden. Bei Bush besteht die Gefahr, dass er durch einen Bestrafungs- und Rachefeldzug versuchen könnte, das Trauma abzuwehren.
Das World-Trade-Center steht symbolisch für die wirtschaftlich-technische Überlegenheit Amerikas, das Pentagon für die militärische Macht und Camp David, das ja offenbar Ziel des vierten abgestürzten Flugzeuges war, steht als Symbol für den Friedensprozess - offenbar das dritte symbolträchtige Hauptziel der Terroristen. Ein Flugzeug sollte auf Camp David stürzen. Camp David sollte als Symbol des Friedensprozesses zerstört werden, ebenso wie das Pentagon als politisch-militärisches und die Twin-Towers als wirtschaftliches Symbol. Bei Camp David ist das nicht gelungen. Die Regierung könnte die Tatsache, dass Camp David von dem geplanten Terror-Anschlag verschont geblieben ist, als Zeichen dafür interpretieren, dass der Friedens-Prozess auch durch diesen Terror-Anschlag nicht zerstört werden kann. Dies wäre allerdings auch eine Selbstverpflichtung Amerikas, sich als letzte verbliebene Weltmacht mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln für den Frieden einzusetzen. Dies betrifft vor allem die Spirale der Gewalt zwischen Israel und den Palästinensern. Während Clinton sich am Ende seiner Amtszeit persönlich bemühte, eine Einigung zu erreichen, ihm aber als scheidendem Präsidenten wohl die Macht und Überzeugungskraft fehlte, verkündete Bush großspurig, er werde sich mehr um die Interessen Amerikas kümmern und zog sich aus der Vermittler-Position zurück.
In gewisser Weise ist nicht nur New York und nicht nur Amerika von den Terrorangriffen getroffen worden, sondern die ganze Welt. In den Kommentaren war von einem "Angriff auf die Zivilisation" die Rede und es wurde postuliert, nach dem 11. September sei "nichts mehr wie vorher". Stellt der 11. September tatsächlich eine weltpolitisch bedeutsame Zäsur dar? Oder folgten diese Reden nur einer Rhetorik der Solidarität und einer Strategie der Dramatisierung, um die Verbündeten Amerikas auf Linie zu bringen und dem militärischen Vorgehen Amerikas die Unterstützung der "Anti-Terror-Koalition" zu sichern?
In der Tat hat sich die amerikanische Regierung Zeit genommen, ihren militärischen Feldzug gegen das terroristische Al-Qaida Netzwerk und das Taliban-Regime in Afghanistan strategisch und vor allem diplomatisch vorzubereiten. Jedenfalls blieb der unmittelbare übereilte Militärschlag, den viele erwartet und befürchtet hatten und der ein Zeichen einer unkontrollierten narzisstischen Wutreaktion gewesen wäre, aus. Dies gab den Amerikanern, aber auch der Weltöffentlichkeit die Gelegenheit, den Terroranschlag in seiner gigantischen Dimension emotional auf sich wirken zu lassen.
Aus den Reaktionen meiner Patienten meine ich ablesen zu können, dass die emotionale Erschütterung sehr tiefgehend war und die allermeisten Menschen stärker beeindruckte, verunsicherte und erschütterte als jede andere Katastrophe der letzten Jahrzehnte. Es kommt im Rahmen einer Psychotherapie nur relativ selten vor, dass politische Ereignisse so breiten Raum einnehmen. Wenn Patienten während der Therapiestunde über aktuelle politische Ereignisse sprechen, tun sie das in der Regel nur, wenn dieses Ereignis für sie persönlich sehr bedeutsam ist. Doch es passiert nur äußerst selten, dass ein bestimmtes politisches oder gesellschaftliches Ereignis gleichzeitig in vielen Therapien thematisiert wird. Diese Tatsache hängt mit dem "Reizschutz" zusammen, den die psychotherapeutische Situation bietet und der verhindert, dass aktuelle äußere Einflüsse die Konzentration des Patienten auf seine innere Welt beeinträchtigen. Im Anschluss an die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl gab es zwar zahlreiche Menschen, bei denen so starke Ängste ausgelöst wurden, dass sie psychotherapeutische Hilfe suchten (vgl. Wirth 1996), aber gleichwohl tauchte das Thema nur in einigen der laufenden Therapien auf. Gleiches gilt auch für den Golf-Krieg (vgl. Wirth 1990). Bei den Terror-Angriffen vom 11. September wurde hingegen der Reizschutz der therapeutischen Situation bei zahlreichen Patienten durchbrochen. Dies gilt natürlich in besonderem Maße für die Menschen, die in unmittelbarer Nähe der Katastrophe lebten. Die New Yorker Psychoanalytikerin Irene Cairo Chiarandini (2001, S. 36) berichtet, dass sie die Katastrophe von einer ihrer Patientinnen erfuhr:
"Es war meine dritte Stunde. Die Patientin, deren Körpersprache im Wartezimmer mir schon sagte, dass etwas Schreckliches passiert war, kam herein, stand in der Mitte des Büros und sagte erschüttert: ›Ich wusste nicht, ob Sie wollen, dass ich komme.‹ Mein verdutztes Gesicht - ich registrierte langsam, dass, was immer sie bekümmerte, mich einschloss - und meine leichte Handbewegung zur Couch, als ich sie fragte: ›Warum sollte ich das nicht?‹, schockierte sie, da ihr bewusst wurde, dass ich es nicht wusste und sie es mir sagen müsste. Diese sonst redegewandte, intensive Frau stotterte und fand keine Worte, besonders nicht die Worte für Türme. Sie sagte, überraschend grotesk, in einer Art funktionaler Aphasie: ›Terroristen in Flugzeugen griffen sie an, die, die, wie heißen sie denn!!! Die ... großen Gebäude!‹. Ich stand ihr durch die Stunde bei.
Erst in der nächsten Sitzung hatte ich die innere Stärke, das Offensichtliche anzusprechen, die Umkehrung der Rollen, ihr Wunsch, mich zu beschützen, ihre Panik, dass sie nicht wusste, ob ich fähig sein würde, ihr zu helfen."
Wahrscheinlich hatte die Patientin nicht nur panische Angst davor, dass die Analytikerin nicht fähig sein könnte, ihr zu helfen, sondern vor allem davor, dass sie sich nicht vorstellen konnte, wie die Analytikerin reagieren würde: ob die Analytikerin die Fassung verlieren würde, ob sie - die Patientin - die Analytikerin würde stützen müssen, ob die ganze analytische Situation sich unter dem Ansturm der äußeren Realität auflösen würde.
Eine gleichsam umgekehrte Situation erlebte ich mit einer meiner Patientinnen. Ich hatte in der Pause zwischen zwei Therapie-Stunden von den Ereignissen erfahren. Als die Patientin hereinkam, bemerkte ich nichts Ungewöhnliches an ihr und ich war mir sofort sicher, dass sie noch nichts von dem Ereignis wusste. Ich überlegte, es ihr zu sagen, entschied mich dann aber dafür, dies nicht zu tun. Rückblickend betrachtet, fühle ich mich bei dem Gedanken wohler, ich hätte es ihr mitgeteilt und wir hätten darüber sprechen können. Aber ich fühlte mich zu diesem Zeitpunkt noch so von dem Ereignis überrollt und so unfähig, seine möglichen Auswirkungen intellektuell einzuordnen und emotional zu verarbeiten, dass ich es vorzog, mit der Patientin nicht darüber zu sprechen. In der nächsten Stunde war es dann möglich, über die Terror-Angriffe und ihre Auswirkungen zu sprechen.
Ich will noch kurz einige weitere typischen Reaktionen beschreiben, die ich bei meinen Patienten beobachten konnte:
Eine Patientin, die am Abend des 11. September in die Therapiestunde kommt, berichtet, sie habe sofort heftige Magenschmerzen bekommen, als sie diese Nachrichten vernommen habe.
Ein Patient am nächsten Tag erzählt, er habe "am ganzen Körper gezittert", als er von der Katastrophe erfahren habe.
In den nächsten Tagen werden die Reaktionen noch vielgestaltiger: Ein Patient muss sich zunächst einen Ruck geben, um die Ansicht zu äußern, in gewisser Weise bekämen die Amerikaner jetzt "die Quittung für ihre arrogante Politik". Es handelt sich um einen masochistischen und aggressionsgehemmten Patienten, dem es sonst sehr schwer fällt, seine Aggressionen zu äußern. Unter dem Eindruck der Terroranschläge werden seine sonst verdrängten sadistischen Impulse so stark stimuliert, dass sie sich in dieser Meinungsäußerung Ausdruck verschaffen, und er sich offenbar teilweise mit der sadistischen Position der Terroristen identifiziert.
Ein 51-jähriger Patient, der von Beruf Pilot ist, zeigt sich von der Katastrophe emotional fast gänzlich unberührt. Er spielt die Bedeutung herunter und hält die militärische Antwort Amerikas und das weltweite Medien-Echo für "übertrieben". Der Patient, dessen Vater Selbstmord beging, als er zehn Jahre alt war, fühlt sich von der Destruktivität des Terrors, die ihn an die Destruktivität in seinem eigenen Leben erinnert, in seiner narzisstischen Charakterabwehr so bedroht, dass er die Dramatik der Ereignisse herunterspielen muss. Hinzu kommt, dass seine berufliche Tätigkeit als Pilot der einzige Lebensbereich ist, in dem er sich wirklich sicher und kompetent fühlt und den er nun mit einer narzisstischen Verleugnung zu schützen versucht.
Ein 43-jähriger Patient spricht eine ganze Therapiestunde über Amerika. Er erinnert sich daran, wie er als Jugendlicher Amerika bewunderte und idealisierte. Als er sich Jahre später den Wunsch erfüllte, die "Stones" live in New York zu hören, sei er einerseits ernüchtert und abgestoßen worden durch die umfangreichen polizeilichen Kontrollen beim Besuch dieses Konzertes, andererseits habe er sich in Manhattan schnell zu Hause gefühlt. Zu den beiden Türmen des World-Trade-Centers habe er "eine persönliche Beziehung" entwickelt, und so habe es ihn "regelrecht verwundet", als er deren Zerstörung am Bildschirm miterleben musste.
Etwa bei der Hälfte meiner Patienten tauchten die Ereignisse vom 11. September in den Therapiesitzungen als Thema auf. Dies habe ich bislang noch nie erlebt, auch nicht bei Tschernobyl, beim Golfkrieg oder bei einem Regierungswechsel. Das enorm breite Spektrum an emotionalen Reaktionen, das bei diesen wenigen Patienten deutlich wurde, zeigt an, dass offenbar für viele Menschen "der Anblick der einstürzenden Türme ein Eingriff in die eigene Welt" (Sznaider 2001, S. 25) darstellte. Doch trotz der hohen emotionalen "Betroffenheit" ließen sich diese Menschen nicht dazu verpflichten, ausschließlich mit moralischer Empörung zu reagieren, sondern gestatteten sich durchaus auch spontane Empfindungen, die nicht als "political correct" gelten. Die heimliche Sympathie mit den Terroristen, die in manchen Äußerungen durchschimmert, erinnert an die "klammheimliche Freude" des Mescalero. Ich glaube, es handelt sich dabei nicht um eine Sympathie mit den Methoden des Terrors, sondern um die mehr gefühlte als klar formulierte Erkenntnis, dass die "heimliche Macht des Ohnmächtigen und die verdrängte Macht des Mächtigen (Richter 2002, S. 16) in einer "undurchschaute[n] wechselseitige[n] Abhängigkeit" (ebd.) voneinander stehen. Die Formulierung von Arundhati Roy, George W. Bush und Osama bin Laden glichen einander wie Zwillinge, zielte genau auf diesen Sachverhalt. Erst wenn die "Gemeinsamkeit des Leides, das sich beide gegenseitig zufügen" (ebd.) erkannt würde, könnten sie das kollusive Miteinander-Verflochten-Sein erkennen - und auflösen.
Natan Sznaider (2001) hat die gesellschaftliche Thematisierung der Terrorangriffe mit der Erinnerungskultur an den Holocaust verglichen: "Der Holocaust steht für den Bruch der Zivilisation in der Moderne und die trennende Linie zur Barbarei" (ebd., S. 28). Die gleiche Funktion könnte auch den Terrorangriffen zukommen. Beides birgt eine zivilisatorische Chance: So wie sich der größte Teil der Menschheit darin einig ist, den Holocaust als einen "Zivilisationsbruch", als das Menschheits-Verbrechen anzusehen, so könnte die Weltöffentlichkeit auch hinsichtlich der Beurteilung des in New York verübten Verbrechens darin Übereinstimmung erzielen, den 11. September zum Symbol für die Notwendigkeit einer globalen Ethik zu nehmen. Diese würde alle Völker, Nationen und Staaten verpflichten, ein neues kulturübergreifendes Selbstverständnis zu entwickeln, um die Zukunft der gesamten Menschheit zu sichern. Konkret würde das beispielsweise heißen, dass die Einsetzung eines internationalen Gerichtshofs rasch vorangetrieben werden sollte.
Momentan sind es allen voran die Amerikaner, die lernen müssen zu begreifen, wie verwundbar sie sind - auch und gerade als Weltmacht. Die USA, die größte ökonomische und militärische Macht, die je in der Geschichte der Menschheit existiert hat, erliegt einer kollektiven narzisstischen Grandiositätsphantasie, wenn sie annimmt, sie sei unsterblich, unverwundbar und nicht auf andere Nationen angewiesen. Tatsächlich ist auch die mächtigste Macht der Welt von anderen Nationen und Staaten abhängig und muss sich darauf einstellen, mit den Unterlegenen am Rande der Welt als Partner zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten. So wie das Individuum seine eigene Sterblichkeit akzeptieren muss, stellt sich auch dem Kollektiv die Aufgabe, seine Endlichkeit und Verletzlichkeit anzuerkennen, um eine realistische Weltsicht zu erlangen. Narzisstische Kränkungen sind belastend, schwer akzeptabel, gar traumatisierend, aber sie enthalten immer auch Chancen, etwas über uns selbst und unser Verhältnis zur Welt zu erfahren. Amerika könnte aus den schrecklichen Ereignissen vom 11. September die Einsicht gewinnen, dass es auf seine Selbstvergottung verzichten muss. Die ungeheure ökonomische, militärische, politische und kulturelle Macht, über die Amerika verfügt, steht in einem dialektischen Verhältnis zur Ohnmacht: Je fortgeschrittener die wissenschaftlich-technische Entwicklung vorangeschritten ist, je grandioser sich die Erfolge in der Beherrschung der Natur und des Menschen ausnehmen, um so komplexer - und damit auch anfälliger und verletzbarer - sind auch die gesellschaftlichen Prozesse, die damit einhergehen. Die zunehmende gesellschaftliche Komplexität führt einerseits zu einen Zuwachs an Macht, andererseits aber auch zu einer immer größer werdenden Abhängigkeit der Menschen und der Völker untereinander.
Paul Klees Held mit dem Flügel symbolisiert dieses dialektische Verhältnis von Allmacht und Ohnmacht, welches das menschliche Schicksal auszeichnet. "Im Gegensatz zu göttlichen Wesen" ist Klees Held "mit nur einem Engelsflügel geboren" (Klee 1905, zitiert nach Friedel 1995, S. 280). Er "macht unentwegt Flugversuche. Dabei bricht er Arm und Bein, hält aber trotzdem unter dem Banner seiner Idee aus" (ebd.). Dieser zweifelsohne männliche Held verkörpert den narzisstischen "Allmachts-Ohnmachts-Komplex" (Richter 1979), aus dem er keinen Ausweg findet. Ins Auge sticht der Kontrast zwischen "seiner monumental-feierlichen Haltung" und dem "bereits ruinösen Zustand" (Klee 1905, zitiert nach Friedel 1995, S. 280), in dem er sich in Wirklichkeit befindet. Diese Figur steht als Sinnbild für eine Welt, die sich selbst ihre Lebensgrundlagen entzieht und ihre Selbstzerstörung in dem illusionären Glauben an die eigene Grandiosität und Macht vollendet.
Wir leben in der historischen Phase der Globalisierung, in der alle Teile der Welt miteinander verknüpft sind. Überall auf der Welt regt sich Widerstand von den Teilen der Weltbevölkerung, die sich benachteiligt und unterdrückt fühlen. Die terroristischen Akte sind geboren aus der Ohnmacht, jedoch verknüpft mit mächtigen Gefühlen des Triumphes und der Grandiosität. Im Terrorismus und in seiner Bekämpfung verbindet sich der narzisstische Größenwahn der Ohnmächtigen mit dem selbstgefälligen grandiosen Selbstbild der Mächtigen zu einer unheilvollen Kollusion. Da nicht nur Amerika, sondern die ganze Welt von den Terror-Angriffen getroffen wurde, gilt dies nicht nur für die Regierung der USA, sondern alle Gesellschaften müssen sich eingestehen, dass unsere moderne Zivilisation in ihrer Komplexität enorm verletzbar sind. Die ökonomisch und militärisch mächtigen Gesellschaften sollten deshalb ein großes Interesse an dem entwickeln, was in der Psyche der Abhängigen, der Schwachen, der Armen, der Benachteiligten und der Unterdrückten vor sich geht. Die Mächtigen und Privilegierten der Welt sollten die Solidarität und das Mitgefühl, das Amerika nach den Terror-Anschlägen aus allen Teilen der Welt entgegengebracht wird, als Chance nutzen, um zu zeigen, dass sie wirklich an einer gerechteren Welt interessiert sind. Der 11. September könnte ein Anlass sein, die Globalisierung der Weltmärkte zu ergänzen durch eine Globalisierung der Ethik und des menschlichen Mitgefühls.

Ein weiterer Artikel von Hans-Jürgen Wirth
Fremdenhass und Gewalt als familiäre und psychosoziale Krankheit

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