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Sind jugendliche Neonazis politisch motiviert?

Guten Abend

Ich begrüsse Sie im Namen der AKdH zu unserer Veranstaltung zum Thema "Gewalttätiger Jugendextremismus".

Es ist unser Anliegen, heute Abend ein Thema zu besprechen, das seit einigen Jahren, mehr oder weniger evident, einer Diagnose unterliegt, die wir heute Abend mit Ihnen gerne überdenken und diskutieren wollen:

Es fällt uns auf, dass in der Öffentlichkeit das Denken und Handeln jugendlicher Neonazis als politisch motiviert interpretiert und verstanden wird. Stimmt diese Diagnose wirklich? – oder handelt es sich beim Phänomen des jugendlichen Rechtsradikalismus in der Schweiz um einen anderen Vorgang?

Unsere Erfahrungen während der letzten 5 Jahre im Umgang mit jugendlichen Neonazis - mit Betonung auf jugendlichen - 15 bis 25 jährigen - zeigt, dass die in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit diskutierte Diagnose - jugendliche Neonazis seien politisch motiviert- meistens nicht zutrifft. Wir übersehen hierbei keinesfalls, dass jugendliche Neonazis zum Rekrutierungsfeld politisch ambitionierter Organisationen und Parteien mit neonazistischem und faschistoidem Gedankengut gehören. Solche Organisationen müssen juristisch und politisch bekämpft werden.

Wir sind aber der Ansicht, dass es sich beim Jugendextremismus in der Regel um psychosoziale Symptome handelt, deren Wurzeln zu grossen Teilen in mangelnder Autonomie, Schmerzverleugnung und in einer damit verbundenen Selbstentfremdung der Persönlichkeit zu suchen sind.
Die Jugendlichen teilen uns mit ihren Signalen aber auch ihre realen, täglichen Alltagssorgen mit: z.B. Gewalt auf dem Pausenhof, Integrationskonflikte mit den in die Schweiz zugezogenen Menschen u.ä.

Die Provokationen der Jugendlichen an die Welt der Erwachsenen - aber auch jene an die Welt anderer Jugendlicher - sind unbeholfene, sogenannt "pervertierte" Versuche der Kontaktaufnahme.

Seit Jahren haben wir es nämlich vorwiegend mit Jugendlichen zu tun, die mit radikalen und auch gewaltsamen Provokationen im Internet, auf der Strasse, in der Schule usw. appelative und andere Signale in die Welt der Erwachsenen senden.

Die Jugendlichen wollen von uns gehört, verstanden und ernst genommen werden.
Eine jugendliche Aussteigern aus der Neonazi-Szene sagte neulich zu mir, als ich mich mit ihr nach kurzem SMS-Austausch in einem Restaurant zu einem Gespräch traf: "Wie extrem müssen wir noch werden, damit ihr uns versteht?"

Diese, z.T. gewalttätigen Provokationen zu verstehen, ist für uns alle nicht leicht. Sie sind eine grosse Herausforderung an uns selbst, denn sie erreichen uns in erster Linie über unsere historisch bedingten Ängste; - d.h. über unvollständig verarbeitete oder gar verdrängte Folgen des Zweiten Weltkrieges.

Dieser Umstand ist ein nicht zu unterschätzender Teil und, wie ich meine, z.T. auch Mit-Ursache des Symptoms des jugendlichen Rechtsradikalismus, denn wir identifizieren die Jugendlichen mit historischen Nazi-Bildern, vor welchen wir uns selbst fürchten.

Gelingt es uns, durch mutige und kritische Selbstwahrnehmung, unsere Ängste und Doppelbilder zu verstehen und dafür die Verantwortung zu übernehmen, schaffen wir die Grundlage, um den Appell der jugendlichen Neonazis verstehen zu können.
Wir sind der Meinung, dass nur so geeignete Präventions- und Therapiemittel entwickelt werden können. Aus dieser Position heraus vertreten wir folgende These:

Werden psychosoziale Symptome nicht mit psychosozialen Mitteln angegangen, sondern, wie tendenziell schon oft gefordert, politisch bekämpft, erreichen wir in erster Linie die Politisierung der Szene und somit eine schwer kontrollierbare Verschärfung der Lage. Die selbe Position vertreten wir übrigens beim Konterpart, dem radikalen Linksextremismus.

Um Missverständnisse zu vermeiden wiederhole ich an dieser Stelle noch einmal:
Wir übersehen keinesfalls, dass jugendliche Neonazis zum Rekrutierungsfeld politisch ambitionierter Organisationen und Parteien mit neonazistischem und faschistoidem Gedankengut gehören. Solche Organisationen aber auch Jugendliche mit programmatischem Rechtsextremismus müssen juristisch und politisch bekämpft werden.
Programmatische rechtsextreme Jugendliche übernehmen im Gegensatz zu den symptomatischen rechtsextremen Jugendlichen politische Verantwortung und senden weniger oder keine appelativen Signale an ihre Umwelt.
Bei diesen extremistischen Jugendlichen genügt die akzeptierende Grundhaltung nicht. Die historischen, politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge müssen in Bezug auf Vergangenheit und Gegenwart verstanden und berücksichtigt werden. Eine Kombination von Repression und Angebot zum Dialog ist hier erforderlich.

Fazit:
- Die frühzeitige Erkennung des jugendlichen Extremismus ist für die Prävention sehr entscheidend. Das Ziel ist mit den Jugendlichen in Kontakt zu kommen bevor diese programmatisch und extremistisch sind.
- Sozialpädagogische Massnahmen können nur im gesellschaftspolitischen Prozess des Umdenkens erfolgsversprechend sein.
- Gesellschaftspolitische Unterstützungsleistungen für rechtsextreme Organisationen müssen weg fallen: Rechtsextremismus MUSS politisch delegitimiert werden.
- Die aktive Vernetzung aller an der Prävention beteiligten ist notwendig, dazu gehört auch die Zusammenarbeit mit der Polizei deren repressive Mittel als gleichwertiges Präventionsmittel verstanden werden muss.

Ich begrüsse nun unsere Referenten herzlich und stelle Ihnen

Franz Kohler
Sozialarbeiter und Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Jugendfragen EKJ vor. Seit Januar dieses Jahres betreut er die "Hotline Rechtsextremismus" des Kanton Basellandschaft.

Der Titel seines Kurzreferates lautet:
Diagnose Jugendextremismus

Ich begrüsse auch Roman Studer. Er ist Kommissariatsleiter und Koordinator "Bekämpfung des gewalttätigen Rechtsextremismus" des Dienstes für Analyse und Prävention (DAP) des Bundesamtes für Polizei (BAP).

Der Titel seines Kurzreferates lautet:
Aktuelles Lagebild zum Rechtsextremismus Schweiz

Nach den beiden Kurzreferaten wird Hugo Stamm für die anschliessende Diskussion auf dem Podium dazu stossen. Hugo Stamm befasst sich seit 25 Jahren mit Sektenfragen und hat dazu verschiedene Bücher veröffentlicht.
Aus seinen Erfahrungen kennt er die Ausstiegs- und Resozialisierungsproblematik aus sogenannt "geschlossenen" Gruppen. Gruppen, die, wie auch unsere Erfahrungen zeigen, ähnliche Strukturen wie Skinheadgangs aufweisen.

Herr Stamm wird uns eine kurze Zusammenfassung seiner Erfahrungen geben.


Ich bedanke mich für Ihr Interesse. Und wünsche Ihnen einen interessanten Abend.




 



© Aktion Kinder des Holocaust